🐾 Teil 8: Die Nacht im Wald
Martin Gerlach stand vor mir, das Gesicht hart wie Stein.
Die Schatten des Waldes lagen schwer auf seinen Schultern, als trüge er sie schon seit Jahren.
Seine Augen waren fest auf die Papiere in meinen Händen gerichtet.
Gib sie mir, sagte er, diesmal lauter.
Seine Stimme ließ keinen Zweifel daran, dass er es ernst meinte.
Silex knurrte erneut, tiefer, die Lefzen leicht erhoben.
Ich spürte, wie mein Herz raste.
Doch etwas in mir weigerte sich, die Kiste und die Blätter aus der Hand zu geben.
Sie gehörten nicht in sein Schweigen, sie gehörten in die Wahrheit.
Ich sagte, das sind Gernots Aufzeichnungen.
Sie dürfen nicht verschwinden.
Für einen Moment flackerte etwas in seinem Blick, ein Zucken, als hätte ich einen verborgenen Nerv getroffen.
Er machte einen Schritt auf mich zu.
Silex sprang vor, stellte sich zwischen uns, die Muskeln gespannt.
Ein Laut entwich Gerlachs Lippen, halb Wut, halb Angst.
Du verstehst nicht, fauchte er.
Das, was Gernot wusste, hätte uns alle ins Unglück gestürzt.
Er hat nicht geschwiegen, und er hat den Preis dafür bezahlt.
Die Worte trafen mich wie ein Schlag.
Ich fragte, ob er es war, der ihn sterben ließ.
Sein Blick wich kurz aus, dann sagte er, ich habe nichts getan, ich habe nur weggesehen.
Das Schweigen war lauter als jedes Geständnis.
Ich presste die Blätter enger an mich und trat zurück.
Silex bewegte sich mit mir, Schritt für Schritt, nie den Blick von Gerlach lassend.
Draußen rauschte der Wald, Äste knarrten im Wind.
Ein Eulenruf durchschnitt die Stille, und die Nacht roch nach feuchtem Laub.
Alles um uns herum schien mitzuhören.
Gerlach stand noch immer im Türrahmen.
Dann ließ er die Schultern sinken.
Er wirkte plötzlich älter, kleiner, als hätte die Last der Jahre ihn erdrückt.
Nimm, was du gefunden hast, sagte er müde.
Aber glaub nicht, dass jemand im Dorf dich dafür dankt.
Manche Wahrheiten wollen nicht mehr ans Licht.
Er drehte sich um und verschwand im Dunkel.
Seine Schritte verloren sich zwischen den Bäumen, bis nur noch das Rauschen der Blätter blieb.
Ich atmete tief durch, doch die Kälte ließ mich nicht los.
Silex stupste mich an, als wolle er sagen, dass wir gehen sollten.
Ich nickte, nahm die Kiste und verließ das Haus.
Der Weg zurück ins Dorf war schwarz wie Kohle, nur die Sterne funkelten schwach über den Baumwipfeln.
Als wir die Brücke erreichten, blieb Silex abrupt stehen.
Er stellte die Ohren auf, als lausche er etwas Unsichtbarem.
Ich folgte seinem Blick und sah eine Gestalt am anderen Ende.
Es war Otto.
Er stand da, gebeugt, die Hände tief in den Taschen.
Als er mich sah, kam er langsam näher, Schritt für Schritt.
Ich erzählte ihm, was geschehen war.
Von der Kiste, von den Listen, von Gerlach.
Otto hörte schweigend zu, sein Gesicht bleich, die Augen leer.
Dann sagte er leise, ich habe dir doch gesagt, es bringt nur Unglück.
Aber du bist weitergegangen, tiefer, als wir es je konnten.
Seine Stimme bebte, doch er wandte sich nicht ab.
Ich fragte ihn, ob er wisse, was in jener Nacht wirklich geschah.
Otto atmete schwer, dann nickte.
Wir alle wussten es, sagte er, doch keiner wollte es laut sagen.
Er erzählte, dass Lastwagen aus dem Werk kamen, voll beladen, mehr als erlaubt.
Sie wollten sie über die Brücke bringen, schnell, bei Nacht, damit niemand es merkte.
Doch die Brücke war schwach, das wusste Gernot.
Er stellte sich ihnen in den Weg, mitten in der Nacht, mit nichts als seiner Stimme und diesem Hund.
Silex bellte, und die Männer hielten an.
Doch einer von ihnen stieß ihn, hart, und er fiel.
Otto brach ab.
Seine Augen glänzten, und er fuhr sich mit der Hand über das Gesicht.
Niemand half ihm. Niemand zog ihn heraus.
Und am nächsten Morgen sagten alle, es sei ein Unfall gewesen.
Die Wahrheit lag plötzlich klar vor mir, so klar wie das Wasser unter der Brücke.
Gernot war nicht gestürzt.
Er war gefallen, weil andere schwiegen.
Silex legte die Schnauze auf Ottos Hand, und der alte Mann begann zu weinen.
Seine Schultern bebten, sein Körper zitterte, als hätte er all die Jahre gewartet, um endlich loszulassen.
Ich legte meine Hand auf seine Schulter.
Die Nacht war still, nur das Rauschen des Bachs sprach weiter.
Ich wusste, dass wir jetzt an einem Punkt waren, von dem es kein Zurück mehr gab.
Die Wahrheit war nicht mehr zu überhören.
Und sie würde nicht schweigen, solange Silex jede Nacht an dieser Brücke wartete.
Morgen werde ich entscheiden müssen, was ich mit dieser Wahrheit tue.