🐾 Teil 9: Die Last der Wahrheit
Der Morgen brach frostig an.
Die Dächer des Dorfes waren weiß überzogen, und die Luft roch nach Rauch aus den Kaminen.
Ich stand am Fenster und hielt den Ordner in den Händen.
Die Seiten schienen schwerer zu wiegen als das ganze Haus.
Meine Mutter trat ein, ohne anzuklopfen.
Sie sah den Ordner, und ihre Augen verdunkelten sich.
Du solltest das nicht haben, sagte sie, ihre Stimme gepresst.
Es bringt nur Leid.
Ich fragte sie, ob sie gewusst habe, dass Gernot nicht einfach gestürzt war.
Sie wich meinem Blick aus, doch die Spannung in ihrem Gesicht sprach für sich.
Manchmal, sagte sie leise, ist es besser, Dinge zu vergessen.
Aber ihre Stimme zitterte, und ich wusste, dass sie nicht daran glaubte.
Am Nachmittag ging ich zur Brücke.
Silex wartete dort, wie immer, still und unbeweglich.
Seine Augen glänzten, als er mich sah, und ich spürte, dass er wusste, was ich tragen musste.
Irmgard kam wenig später.
Sie setzte sich neben mich, ihre Hände kalt, ihr Blick in die Ferne gerichtet.
Ich erzählte ihr alles, was Otto mir gestanden hatte.
Ihre Lippen bebten, und sie presste die Hände fester zusammen.
Er hat es gewusst, flüsterte sie.
Mein Bruder wusste, dass die Brücke brechen konnte, und er wollte es verhindern.
Sie schloss die Augen, und eine einzelne Träne lief über ihre Wange.
Ich fragte sie, warum niemand ihn verteidigt habe.
Ihre Antwort kam nach einer langen Pause.
Weil Angst stärker war als Wahrheit.
Alle fürchteten, ihre Arbeit zu verlieren, ihr Brot, ihre Häuser.
Und so schwieg das Dorf.
Die Worte fielen wie Steine ins Wasser.
Ich spürte die Schwere in meiner Brust, ein Gewicht, das ich kaum tragen konnte.
Silex hob den Kopf, legte ihn auf Irmgards Knie, und sie streichelte ihn, als sei er das letzte Stück ihres Bruders.
Plötzlich hörten wir Schritte.
Martin Gerlach trat aus dem Nebel, sein Gesicht noch härter als zuvor.
Er blieb vor uns stehen, die Hände tief in den Taschen.
Ihr solltet aufhören, sagte er, sonst bringt ihr nur Unruhe in dieses Dorf.
Irmgard erhob sich.
Ihre Stimme bebte, doch sie sprach klar.
Unruhe, Martin, hat es schon damals gegeben.
Ihr habt sie nur vergraben.
Sein Blick verfinsterte sich.
Er trat näher, doch Silex stellte sich vor uns, die Lefzen erhoben.
Ein tiefes Grollen füllte die Luft, und für einen Moment zögerte Gerlach.
Dann drehte er sich abrupt um und ging.
Seine Schritte hallten über den Weg, schwer und drohend.
Irmgard sah mir in die Augen.
Er wird nicht aufhören, sagte sie leise.
Er wird alles tun, um das Schweigen zu bewahren.
Die Dunkelheit legte sich über die Felder, und der Wind wurde schärfer.
Ich wusste, dass die Nacht keine Ruhe bringen würde.
Zu viele Schatten waren jetzt wach.
In jener Nacht konnte ich nicht schlafen.
Ich sah immer wieder Gernots Gesicht aus dem Traum, seine dunklen Augen, die mich stumm ansahen.
Ich hörte das Rauschen der Thyra wie eine Stimme, die mich rief.
Gegen Mitternacht stand ich auf und ging hinaus.
Der Frost knirschte unter meinen Schritten, der Himmel war sternenklar.
Ich ging zur Brücke, und Silex folgte mir, still und treu.
Wir standen dort, wo alles begonnen hatte.
Das Wasser floss schwarz unter uns, und der Wind trug den Geruch von feuchtem Holz.
Ich sprach Gernots Namen, und es war, als würde der Bach antworten.
In der Ferne sah ich ein schwaches Licht.
Es bewegte sich langsam, als trüge jemand eine Laterne.
Mein Herz schlug schneller, doch ich blieb stehen.
Die Gestalt kam näher, und ich erkannte Otto.
Er sah müde aus, seine Schultern hingen schwer.
Er trat zu mir und sagte leise, morgen musst du ins Archiv gehen.
Dort liegt der letzte Bericht.
Seine Worte schnitten durch die Nacht.
Das Archiv, dachte ich, der Ort, an dem die Vergangenheit festgehalten wird.
Wenn dort etwas lag, das alles bestätigte, dann durfte ich nicht länger warten.
Otto sah mich ernst an.
Aber sei vorsichtig, sagte er, manche Blätter schneiden tiefer als Messer.
Dann ging er fort, und die Dunkelheit verschluckte ihn.
Ich blieb zurück mit Silex, der an meiner Seite saß.
Seine Augen glänzten im Mondlicht, voller Treue und stiller Kraft.
Ich legte die Hand auf sein Fell und wusste, dass ich nicht allein war.
Morgen werde ich das Archiv betreten.
Und dort wird sich zeigen, ob die Wahrheit stärker ist als das Schweigen.