🐾 Teil 4: Der Mann im Mondlicht
Der Schatten bewegte sich kaum, als sei er selbst Teil der alten Mauern. Jaro hielt den Atem an. Sein Herz klopfte so laut, dass er fürchtete, der Fremde müsse es hören. Der Mond stand schräg über dem Kirchturm, und das Licht schnitt scharfe Linien über den Platz.
Sampo trat einen Schritt nach vorn. Er bellte nicht, er knurrte nicht. Stattdessen bewegte sich seine Rute leicht, ein Zeichen von Erkennen, nicht von Abwehr. Der Schatten neigte den Kopf, so als grüße er den Hund.
Wer ist da Jaro flüsterte es kaum hörbar, doch die Gestalt schien ihn zu verstehen. Sie hob langsam die Hand und deutete auf die Glocke. Dann ließ sie den Arm sinken und verschwand hinter der Mauer des Kirchhofs. Kein Laut, kein Knirschen im Kies, nur das Rauschen des Blutes in Jaros Ohren blieb zurück.
Der Junge wollte aufspringen, doch seine Beine gehorchten nicht. Er saß reglos, bis Sampo zurückkam und sich neben ihn setzte. Die Wärme des Hundes half, den Schock zu überwinden. Jaro wusste, dass er das nicht geträumt hatte.
Am nächsten Morgen war das Dorf wie immer. Männer trugen Holz in die Scheunen, Frauen hängten Wäsche zwischen Apfelbäumen, und aus dem Gasthaus klang das Klappern von Geschirr. Doch für Jaro war alles verändert. Der Schatten war real gewesen, und die Botschaft auf dem Zettel wuchs in ihm wie eine Pflanze, die kein Licht, sondern Dunkelheit zum Blühen brauchte.
In der Schule starrte er aus dem Fenster. Die Stimme des Lehrers kam ihm fern vor, wie ein Summen. Als die Glocke zur Pause schlug, hörte er Sampoes Bellen von weitem. Eins zu eins, Schlag für Schlag. Kein anderes Geräusch auf der Welt klang so zuverlässig.
Nach dem Unterricht lief Jaro nicht nach Hause. Stattdessen folgte er dem Weg entlang der Donau, bis er den kleinen Steg erreichte, den die Dorfbewohner nur selten nutzten. Dort saß Irmgard Hollenbeck. Sie hatte einen Korb mit sich, darin ein altes Tuch und Brot.
Sie nickte ihm zu, als habe sie auf ihn gewartet. Du hast ihn gesehen, nicht wahr Sie sprach ohne Umschweife, und Jaro fühlte, wie ihm heiß wurde. Er nickte. Sie schloss die Augen und atmete tief. Mein Bruder kehrt manchmal zurück. Nicht jeder sieht ihn, nicht jeder erkennt ihn. Aber wenn du es tust, dann weil er etwas von dir braucht.
Jaro verstand nicht, wie sie so sicher sein konnte. Doch ihre Stimme war fest, und in ihren Augen lag keine Spur von Zweifel. Er erzählte von der Nacht, vom Schatten, vom Zeigen zur Glocke. Irmgard legte die Hand auf den Korb. Sie zog ein altes Foto hervor, vergilbt, an den Rändern geknickt.
Darauf war Eckart zu sehen, jung noch, mit ernsten Augen und dem Hund an seiner Seite. Sampo war damals kräftig, das Fell glänzend. Der Blick des Mannes aber war derselbe wie der des Schattens. Jaro spürte einen Stich, als er das Bild ansah.
Es gibt Dinge, die wir nicht begreifen, sagte Irmgard. Aber die Treue eines Hundes ist stärker als der Tod. Eckart wusste das. Darum hat er gewusst, dass Sampo hierbleiben würde.
Sie legte das Foto zurück. Dann sah sie Jaro direkt an. Du musst dem Klang folgen, wenn er dich ruft. Nicht jeder Schlag, nicht jede Stunde. Aber du wirst es wissen.
Jaro schwieg. Der Gedanke machte ihm Angst. Er war nur ein Junge, und doch lag auf ihm eine Last, die älter war als das Dorf. Als er später nach Hause ging, spürte er die Augen der Leute auf sich. Vielleicht bildete er sich das nur ein. Vielleicht aber wussten sie mehr, als sie sagten.
Am Abend ging er wieder zur Kirche. Die Luft war kühl, und Nebel zog über die Wiesen. Sampo wartete schon. Der Hund stand reglos, den Blick auf den Turm gerichtet. Jaro setzte sich neben ihn.
Die Glocke schlug neun Mal. Sampo bellte jedes Mal, gleichmäßig, fest. Dann Stille. Doch kurz darauf kam ein weiterer Schlag, tiefer, einsamer. Er passte zu keiner Uhrzeit. Jaro fuhr hoch, und Sampo bellte erneut, diesmal lauter, drängender.
Der Klang zog Jaro hinunter zum Fluss. Er stolperte über Wurzeln, rannte durch das Gras, während der Hund dicht neben ihm lief. Der Nebel wurde dichter, und im Schimmer des Mondes sah er den Schatten wieder, diesmal deutlicher. Der Mann stand auf dem Steg, die Schultern breit, den Kopf geneigt.
Jaro blieb stehen, das Herz raste. Sampo stellte sich neben ihn, ohne Furcht. Der Schatten hob den Arm und zeigte auf das Wasser, auf die Stelle, wo die Strömung dunkler wirkte.
Jaro schluckte. In ihm war das Gefühl, dass dort unten etwas wartete. Etwas, das seit Jahren verborgen lag und nun ans Licht wollte.
Die Nacht hielt den Atem an.