Die Glocke im Dorf | Ein alter Hund, eine Glocke, ein Junge und ein Dorf hütet ein stilles Vermächtnis

🐾 Teil 5: Das Geheimnis im Fluss

Der Steg knackte leise unter Jaros Schritten. Er wagte sich nicht ganz bis zum Ende, sondern blieb in der Mitte stehen. Das Wasser darunter war schwarz, nur die Sterne spiegelten sich wie kleine Flammen darin. Der Schatten zeigte unbeirrt auf die Stelle, wo die Strömung dunkler wirkte. Dann löste er sich langsam im Nebel auf, als hätte ihn der Fluss selbst verschluckt.

Jaro spürte, wie sein Herz hämmerte. Alles in ihm sagte, dass er näher gehen sollte. Gleichzeitig packte ihn die Angst, dass das Wasser ihn ebenfalls verschlingen würde. Sampo stand neben ihm, die Ohren gespitzt, die Muskeln gespannt. Der Hund bellte einmal, tief und kurz, als wolle er sagen: Ja, genau dort.

Jaro kniete sich hin und starrte in die Strömung. Das Wasser floss ruhig, doch an dieser Stelle schien es schwerer zu ziehen, als hielte der Fluss einen Atemzug zurück. Er griff in die Tasche und fühlte den Zettel. Die Worte flackerten in seinem Kopf: Folge dem Klang, wenn die Stunde dich ruft. War dies die Stunde?

Er wagte nicht zu springen. Stattdessen warf er einen kleinen Stein hinein. Die Ringe breiteten sich aus, löschten das Spiegelbild des Mondes und schoben es fort. Nichts geschah. Nur das Murmeln des Flusses, alt und ungeduldig. Jaro stand auf, unsicher, ob er etwas übersehen hatte.

Erst als er sich abwenden wollte, bemerkte er es. Ein schwaches Glitzern, kaum sichtbar, schimmerte unter der Wasseroberfläche. Er blinzelte, doch es blieb da. Etwas Metallisches, das zwischen den Steinen ruhte. Sein Atem stockte. Sampo bellte erneut, diesmal drängender.

Jaro rannte heim. Er wusste, dass er allein nichts ausrichten konnte. Seine Mutter würde er nicht fragen, denn sie war schon zu erschöpft, wenn sie von der Arbeit kam. Doch am nächsten Morgen suchte er Irmgard Hollenbeck auf. Sie saß vor dem Haus ihrer verstorbenen Verwandten, das sie seit ihrer Rückkehr bewohnte.

Als er ihr von dem Glitzern erzählte, legte sie die Stirn in Falten. Eckart hat oft am Fluss gearbeitet, sagte sie leise. Er schnitzte Kreuze für die Gräber, und manchmal sprach er davon, dass der Fluss Dinge bewahre, die Menschen vergessen. Dann stand sie auf und griff nach ihrem Stock. Zeig mir den Ort.

Zusammen gingen sie zum Steg. Sampo lief voran, die Rute erhoben, als wüsste er längst, worum es ging. Der Morgennebel lag noch dicht über der Donau, und die Vögel riefen aus den Bäumen. Jaro zeigte auf die Stelle im Wasser. Das Glitzern war auch bei Tageslicht sichtbar, ein kleiner, matter Schimmer unter der Oberfläche.

Irmgard kniete sich langsam nieder, das Holz ihres Stocks im Kies. Ihre Augen verengten sich. Das ist nicht vom Fluss. Das hat jemand dort hingelegt.

Jaro spürte, wie seine Hände schwitzten. Er wollte hinuntersteigen, doch die Böschung war steil, glitschig vom Tau. Irmgard legte ihm die Hand auf die Schulter. Warte bis heute Abend. Der Fluss gibt nachts leichter frei.

Die Stunden bis dahin zogen sich. In der Schule konnte Jaro kaum schreiben, kaum zuhören. Er sah immer wieder das Bild des Glitzerns vor sich. Als er endlich nach Hause kam, nahm er die alte Taschenlampe seines Großvaters und wartete, bis die Sonne sank.

Die Nacht war kühl, der Himmel klar. Sampo lief neben ihm, während er den Weg zum Steg nahm. Irmgard wartete schon, ein Seil über der Schulter, das sie aus der Scheune geholt hatte. Sie nickte ihm zu, und gemeinsam stiegen sie die Böschung hinunter. Das Wasser war eiskalt, als Jaro die Hände hineintauchte.

Er griff nach dem Glitzern. Die Finger fanden Metall, kalt und schwer. Er zog daran, und langsam löste sich ein Kästchen aus den Steinen. Es war nicht groß, kaum größer als ein Buch, aber fest verschlossen mit einem kleinen Schloss, das vom Rost zerfressen war.

Jaro legte das Kästchen auf den Steg. Irmgard beugte sich darüber, ihre Hände zitterten. Das ist Eckarts Arbeit. Ich erkenne seine Schnitzerei. Die Kanten waren mit einfachen Mustern versehen, Kreuze und kleine Wellenlinien, die an den Fluss erinnerten.

Sie suchten nach einem Schlüssel, doch fanden keinen. Schließlich nahm Irmgard einen Stein und schlug das alte Schloss auf. Es zerbrach nach dem dritten Schlag, und der Deckel öffnete sich knarrend.

Drinnen lagen vergilbte Blätter, sorgfältig gefaltet. Ein kleines Holzkreuz, schlicht, aber voller Bedeutung. Und darunter ein Ring aus Silber, der in der Dunkelheit matt glänzte.

Irmgard hielt den Atem an. Das ist der Ring meiner Mutter. Er war seit Jahrzehnten verschwunden. Dann hob sie ein Blatt heraus und entfaltete es vorsichtig. Die Schrift war die gleiche wie auf Jaros Zettel.

Jaro las mit, und je mehr Worte sichtbar wurden, desto stärker spürte er, dass dies keine gewöhnliche Erinnerung war. Es war eine Botschaft, ein Testament, das Eckart für die Zukunft hinterlassen hatte.

Die letzte Zeile traf ihn wie ein Schlag: Jaro Dietz, du wirst wissen, wann es Zeit ist.

Die Nacht schloss sich um sie, und die Glocke begann zu schlagen, obwohl niemand die Seile berührt hatte.

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