Die Glocke im Dorf | Ein alter Hund, eine Glocke, ein Junge und ein Dorf hütet ein stilles Vermächtnis

🐾 Teil 7: Der Ruf der Glocke

Der Morgen war klar und kalt. Nebel hing noch über den Wiesen, doch die Sonne hatte schon begonnen, ihn aufzulösen. Jaro trat aus dem Haus, das kleine Holzkreuz in der Jackentasche. Es fühlte sich an wie ein Herzschlag, der nicht seiner war. Seine Mutter war früh in die Küche des Gasthauses gegangen, ohne zu bemerken, wie unruhig er war.

Er lief zur Kirche. Sampo saß schon dort, als hätte er die ganze Nacht gewartet. Der Hund wirkte müde, doch seine Augen waren wach, die Ohren aufgerichtet. Jaro setzte sich neben ihn. Für einen Moment war es still, nur die Donau rauschte in der Ferne.

Dann schlug die Glocke. Nicht die übliche Stunde, nicht das vertraute Muster. Es war nur ein einziger Schlag, tief und einsam. Sampo bellte. Kurz, fest, so wie Eckart es sich gewünscht hatte. Jaro fühlte das Echo in seiner Brust. Es war der Ruf, von dem die Worte gesprochen hatten.

Er stand auf. Sein Blick ging zum Pfad, der hinauf zum Kloster führte. Der Klang schien von dort zu kommen, obwohl er wusste, dass die Glocke im Turm hing. Sampo erhob sich, streckte die alten Glieder und folgte ihm.

Der Weg war steil und von Wurzeln durchzogen. Jaro spürte die Kälte im Atem, hörte das Knacken der Äste unter Sampoes Pfoten. Immer wieder blickte er zurück, doch das Dorf lag still im Morgenlicht. Es war, als hätte die Welt beschlossen, nicht teilzuhaben.

Oben am Kloster stand das Tor offen. Kein Mönch war zu sehen. Jaro trat ein, und sofort umfing ihn der Geruch nach Wachs, Stein und altem Holz. Sampo blieb dicht hinter ihm. Der große Hund wirkte hier kleiner, als drücke die Stille auf ihn herab.

Sie gingen durch den Kreuzgang. In der Mitte des Hofes stand der Brunnen, das Wasser darin unbewegt. Jaro hörte keinen Laut außer seinen Schritten. Dann, ohne Vorwarnung, schlug die Glocke erneut. Der Ton hallte durch die Mauern, und diesmal folgte ihm ein zweiter, ein dritter. Sampo bellte jedes Mal, bis es wieder still wurde.

Da bemerkte Jaro eine Bewegung. Am Ende des Ganges stand eine Gestalt, dunkel, schwer zu erkennen. Er fror ein. Der Mann schien ihn anzusehen, auch wenn das Gesicht im Schatten lag. Es war derselbe Schatten, den er schon zweimal gesehen hatte.

Jaro wollte schreien, doch es kam kein Ton heraus. Stattdessen griff er nach dem Holzkreuz in seiner Tasche. In dem Moment schien der Schatten deutlicher zu werden, als habe das Kreuz ihm Gestalt verliehen. Er sah Eckarts Gesicht, älter, müde, aber unverkennbar.

Die Lippen des Schattens bewegten sich, doch Jaro hörte keine Worte. Nur die Glocke schlug erneut, und mit jedem Schlag wurde das Bild schwächer, bis es sich im Licht auflöste. Zurück blieb nur der leere Gang.

Sampo stupste Jaro an, als wolle er ihn zurückholen. Der Junge atmete schwer, sein Herz raste. Er wusste nun, dass der Klang ihn nicht in die Irre führte. Doch er wusste auch, dass dies nur der Anfang war.

Irmgard wartete am unteren Ende des Weges, als hätten ihre Augen die Bewegung von oben gespürt. Sie sah Jaro und den Hund kommen, und ihr Blick veränderte sich. Du hast ihn gesehen, sagte sie, noch bevor er etwas sagen konnte.

Jaro nickte. Er erzählte von dem Schatten, vom Kreuz, von der Glocke. Irmgard schloss die Augen. Mein Bruder hat dich auserwählt. Nicht ich, nicht das Dorf. Er wusste, dass eines Tages jemand kommen würde, der jung genug ist, um nicht zu zweifeln.

Jaro schwieg. Zweifel nagten trotzdem an ihm. Er war nur ein Kind, und doch sollte er etwas tragen, das selbst Erwachsene nicht verstanden. Er fühlte sich schwerer als je zuvor.

Am Abend kehrte er noch einmal zum Friedhof zurück. Der Himmel war rot, und die Krähen kreisten über den Bäumen. Sampo legte sich vor Eckarts Grab nieder, die Schnauze auf die Erde. Jaro setzte sich daneben.

Die Glocke schwieg diesmal. Nur der Wind ging durch die Blätter. Jaro spürte, dass er etwas sagen musste. Er flüsterte, kaum hörbar: Sampo, du bist frei.

Der Hund hob den Kopf. Seine Augen glänzten im letzten Licht, und für einen Augenblick schien es, als lächle er. Dann legte er sich wieder nieder, ruhig, gelassen, als hätte er genau darauf gewartet.

Doch tief in Jaros Herz blieb eine Frage. War dies wirklich das Ende der Aufgabe, oder erst der Beginn?

Die Nacht fiel, und mit ihr kam eine Stille, die mehr versprach als Ruhe.

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