🐾 Teil 10: Der letzte Schlag
Die Nacht war still, und doch schien das ganze Dorf zu lauschen. Jaro saß neben Sampo auf dem kalten Stein des Kirchplatzes. Der alte Hund lag schwer an seiner Seite, sein Atem ging ungleichmäßig, mal tief, mal stockend. Über ihnen hing der Mond wie ein silbernes Auge, und jeder Schatten wirkte klarer als am Tag.
Irmgard stand ein Stück entfernt. Sie hielt ihren Stock fest, als sei er das Einzige, was sie noch tragen konnte. Ihre Augen waren voller Trauer und doch auch voller Frieden. Sie wusste, was geschah, und sie wusste, dass es so sein musste.
Die Glocke schlug. Einmal, tief und getragen. Jaro fühlte das Vibrieren in der Brust, und Sampo hob noch einmal den Kopf. Sein Blick war nicht auf die Kirche gerichtet, sondern in die Ferne, dorthin, wo niemand von ihnen sehen konnte. Dann schloss er langsam die Augen.
Jaro legte die Hand auf das Fell. Es war warm, und doch spürte er schon das Gewicht der Stille, die sich ausbreitete. Er flüsterte: Du bist frei, Sampo. Danke, dass du gewartet hast.
Ein letzter Atemzug, schwer und lang, dann wurde es still. Sampo bewegte sich nicht mehr. Sein Kopf lag nun friedlich auf Jaros Schoß, die Schnauze weich, als hätte er nur beschlossen, endlich zu ruhen.
Die Glocke schwieg. Kein Schlag folgte, kein Echo. Nur das Rauschen der Donau in der Ferne und das Schlagen von Jaros Herz, das zu brechen schien.
Irmgard trat näher, legte eine Hand auf Jaros Schulter. Lass ihn, sagte sie leise. Er ist zu Eckart gegangen. Sie beugte sich hinunter, streichelte den Hund noch einmal über den Kopf. Dann richtete sie sich auf und sah in den Himmel.
Sie nahmen Sampo am nächsten Morgen gemeinsam auf den Friedhof. Die Sonne war schwach, ein fahles Licht, das mehr versprach, als es gab. Jaro trug das kleine Holzkreuz, das Eckart ihm hinterlassen hatte, und hielt es fest an seine Brust.
Das Dorf war stiller als sonst. Einige standen an den Türen, andere kamen schweigend zum Platz. Niemand sprach, doch jeder wusste, was geschehen war. Der Hund, der Jahre lang gebellt hatte, wenn die Glocke schlug, lag nun still.
Sie gruben ein Grab in der Nähe von Eckart Hollenbeck. Nicht tief im hinteren Teil, sondern dicht neben dem Stein mit der Gravur. Warte, stand dort, und Noch einmal. Nun würde jemand an seiner Seite ruhen, der das Warten mitgetragen hatte.
Jaro legte das Holzkreuz in die Erde, bevor sie den Hund hinunterließen. Seine Finger zitterten, doch er fühlte, dass er damit etwas vollendete. Er sah Irmgard an, und in ihren Augen lag ein stilles Danke, das keine Worte brauchte.
Als sie das Grab schlossen, begann die Glocke zu schlagen. Zwölf Mal, hell und klar. Doch diesmal war kein Bellen zu hören, nur das Echo, das über das Tal zog. Viele im Dorf weinten, auch die, die den Hund nur aus der Ferne gekannt hatten. Denn er war mehr gewesen als ein Tier. Er war Erinnerung, Treue, eine Brücke zwischen Vergangenheit und Gegenwart.
Am Abend saß Jaro wieder am Kirchplatz, allein. Die Glocke schlug zur Stunde, und diesmal bellte niemand. Die Stille war tief, aber nicht leer. Sie war erfüllt von etwas Unsichtbarem, das blieb. Jaro schloss die Augen und hörte den Klang, der nun in ihm selbst nachhallte.
Er dachte an Eckart, an die Briefe, an den Schatten, der ihn durch die Nächte geführt hatte. Er dachte an Sampo, der gewartet hatte, bis die Worte gesprochen waren. Und er wusste: Auch wenn der Hund gegangen war, würde die Treue nicht enden. Sie hatte sich in ihn gelegt, in sein Herz, und würde ihn begleiten, solange er lebte.
Irmgard kam langsam über den Platz. Sie setzte sich neben ihn, der Stock klopfte leise auf den Stein. Eine Weile schwiegen sie beide. Dann sagte sie: Manche Geschichten hören nie auf. Sie verändern nur, wer sie weiterträgt.
Jaro nickte. Er fühlte die Wahrheit in ihren Worten. Er war noch ein Junge, aber er wusste, dass er etwas empfangen hatte, das größer war als er selbst. Etwas, das ihn ein Leben lang begleiten würde.
Die Glocke schlug erneut, und diesmal lächelte Jaro. Kein Bellen antwortete. Aber tief in ihm wusste er, dass Sampo gehört hatte, egal wo er jetzt war.
Und so endete das Warten des Hundes, doch die Erinnerung begann neu, in einem Herzen, das zu jung war, um zu vergessen, und doch alt genug, um zu verstehen.