Die Kette am Baum | Ein angeketteter Hund im Wald und das Familiengeheimnis, das er zurückbringt

🐾 Teil 4: Das Foto im Schubfach

Der nächste Morgen begann still.
Nur das Tropfen von Tau aus den Fichten und das leise Knacken des Ofens begleiteten den ersten Kaffee.
Henning hatte schlecht geschlafen.
Die Worte seiner Schwester gingen ihm nach wie ein unvollendeter Satz.

Asko lag vor der Türschwelle, die Schnauze zwischen den Pfoten.
Er hob nur kurz den Kopf, als Henning an ihm vorbeiging, um Holz zu holen.
Der Hund hatte sich verändert.
Das Zittern in den Beinen war weniger geworden, und manchmal blitzte in seinem Blick etwas auf, das an Wachsamkeit erinnerte.

Henning wollte nicht warten, bis Alwine bereit war, mehr zu erzählen.
Er brauchte etwas, das er anfassen konnte.
Etwas, das bewies, dass er sich nicht nur in Erinnerungen verrannte.

Im Dorf gab es nur einen Ort, an dem solche Beweise liegen konnten, das alte Elternhaus.
Es stand seit Jahren leer, nur gelegentlich schaute er nach dem Rechten.
Heute würde er es gründlicher tun.

Der Weg dorthin führte an der Ilse entlang.
Das Wasser war klar, die Kiesbänke voll kleiner Muscheln.
Henning blieb kurz stehen, sah den Wellen zu.
Die Stille half, seine Gedanken zu ordnen, doch tief drinnen wuchs eine Unruhe.

Das Haus stand am Rand einer kleinen Wiese, von Birken eingerahmt.
Die Fensterläden waren zu, das Dach vom letzten Sturm beschädigt.
Henning schloss die Tür auf.
Der Geruch von Staub und altem Holz schlug ihm entgegen.

Er ging direkt ins Arbeitszimmer seines Vaters.
Der Raum war unverändert, als sei die Zeit stehen geblieben.
Der schwere Schreibtisch, der abgewetzte Ledersessel, an der Wand das Regal mit vergilbten Landkarten.
Henning öffnete die Schubladen nacheinander.
Alte Steuerbescheide, Notizbücher, ein verrosteter Kompass.

In der untersten Schublade klemmte etwas.
Er musste kräftig ziehen, bis sie nachgab.
Zwischen vergessenen Briefen lag ein Fotoalbum, in braunes Leinen gebunden.
Henning setzte sich ans Fenster, wo das Licht besser fiel, und schlug es auf.

Die ersten Seiten zeigten gewöhnliche Familienfotos.
Sommerfeste, Ausflüge in den Harz, sein Vater in Jagdkleidung.
Dann blieb Henning an einem Bild hängen.
Er war vielleicht acht oder neun, neben ihm stand der alte Asko.
Und im Hintergrund, halb im Schatten, ein Junge, den er nicht kannte.
Auf der Rückseite stand nur ein Datum: Juni 1973.

Er blätterte weiter und fand ein zweites Bild.
Diesmal war der Junge allein mit Asko abgebildet.
Der Hund trug ein Halsband, und Henning erkannte die Einkerbung.
Dasselbe „A“, das jetzt an dem ausgemergelten Tier in seiner Hütte hing.

Henning legte das Album auf den Tisch und atmete tief ein.
Der Junge auf dem Foto hatte etwas an sich, das ihn irritierte – eine Ähnlichkeit, die er nicht einordnen konnte.
Er nahm das Album unter den Arm, schloss das Haus ab und ging zurück.

Zu Hause legte er es auf den Tisch und rief Alwine an.
„Ich habe ein Foto gefunden. Von Asko und einem Jungen. Wer ist das?“

Es dauerte lange, bis sie antwortete.
„Das ist Ralf. Unser Halbbruder.“
Henning hielt das Telefon fester.
„Halbbruder?“
„Vater hat nie darüber gesprochen. Ralf war der Sohn aus einer früheren Beziehung. Er lebte bei seiner Mutter in Wernigerode. Aber eines Sommers war er bei uns. Das war der Sommer, in dem Asko verschwand.“

Henning schloss die Augen.
„Und was ist aus Ralf geworden?“
„Ich weiß es nicht. Er ist irgendwann verschwunden. Wie Asko.“

Nach dem Gespräch saß Henning lange still.
Er wusste nun, dass der Hund in seiner Hütte nicht nur irgendein Tier war.
Er trug ein Erbe, das bis in die verborgensten Winkel seiner Familie reichte.

Am Abend legte Henning das Album auf den Boden vor Asko.
Der Hund schnupperte daran, blieb dann vor dem Foto von 1973 stehen.
Sein Schwanz bewegte sich leicht, als erkenne er etwas.
Henning spürte, wie ihm ein Schauer über den Rücken lief.

Draußen begann es zu dämmern.
Aus dem Wald kam ein Laut, den Henning nicht zuordnen konnte – kein Tier, eher ein leises Rufen.
Asko hob den Kopf, die Ohren steil.
Henning stand auf, griff nach der Lampe und trat hinaus.

Der Wald wirkte anders in diesem Licht.
Zwischen den Bäumen lag ein Schatten, der sich bewegte.
Als Henning den Lichtstrahl hob, war er verschwunden.

Zurück in der Hütte stellte er fest, dass das Album nicht mehr auf dem Boden lag.
Es lag auf dem Tisch und das Foto von 1973 fehlte.

Manche Antworten kommen nicht, weil man sie sucht, sondern weil jemand nicht will, dass man sie findet.

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