🐾 Teil 5: Schritte im Laub
Henning stand mitten im Raum und starrte auf den Tisch.
Das Album lag da, als hätte es jemand mit Absicht platziert.
Nur das eine Foto fehlte.
Er ging zur Tür, prüfte den Riegel.
Verschlossen.
Das Fenster stand einen Spalt offen, aber hoch genug, dass niemand leise hätte einsteigen können.
Trotzdem wusste er, dass es passiert war.
Asko stand nun neben ihm, die Muskeln angespannt, der Blick auf die Schatten draußen gerichtet.
Henning legte ihm die Hand auf den Kopf.
„Wir sind nicht allein“, murmelte er.
Er löschte das Licht, setzte sich in den dunklen Raum und wartete.
Draußen knackte ein Ast, dann noch einer.
Die Geräusche kamen näher, wurden wieder leiser, verschwanden schließlich.
Er wusste nicht, ob er sich einbildete, dass er Schritte gehört hatte.
Der Morgen brachte Nebel, der das Land in graue Schleier hüllte.
Henning machte Feuer, stellte Asko etwas warmes Wasser mit Haferflocken hin und setzte sich dann an den Tisch.
Er nahm das Album wieder in die Hand, blätterte, als könne er dadurch das fehlende Foto zurückholen.
Gegen Mittag beschloss er, ins Dorf zu gehen.
Er wollte wissen, ob jemand Fremdes gesehen hatte.
Der Weg führte ihn an der alten Mühle vorbei, wo der Wind immer seltsam um die Mauern strich.
Vor dem Laden von Gerta Voges stand eine Kiste mit Äpfeln, der Geruch von frischem Brot wehte durch die Tür.
„Morgen, Falkner“, sagte Gerta.
„Suchst du was Bestimmtes?“
„Ja. Ist dir in den letzten Tagen jemand aufgefallen, den du nicht kennst?“
Sie dachte nach.
„Nur einer, der gestern Abend mit dem Bus kam. Groß, dunkle Jacke, grauer Rucksack. Hat nichts gekauft, nur gefragt, wie man zu den Moorwegen kommt.“
Henning spürte, wie sich etwas in ihm verhärtete.
Er fragte nicht weiter, kaufte ein Stück Brot und ging.
Die Moorwege führten nicht nur zu Ahlers’ Haus, sondern auch in Richtung des alten Elternhauses.
Wieder zu Hause angekommen, fand er vor der Tür einen frischen Abdruck im feuchten Boden.
Größer als sein eigener Schuh, tief im Erdreich.
Daneben ein kleinerer, länglicher Abdruck, als hätte jemand einen Stock oder eine Gehhilfe benutzt.
Er folgte der Spur ein Stück in den Wald, bis sie sich im Moos verlor.
Asko schnupperte lange an der letzten Stelle, dann hob er den Kopf, die Ohren gespitzt.
Henning konnte nichts hören, doch er vertraute dem Hund.
Er beschloss, heute Nacht wach zu bleiben.
Als die Dunkelheit hereinbrach, setzte er sich an das Fenster.
Das Feuer glomm nur schwach, um keinen hellen Schein nach draußen zu werfen.
Die Uhr tickte laut in der Stille.
Gegen Mitternacht hörte er es.
Schritte im Laub.
Langsam, bedächtig, wie von jemandem, der sich nicht erwischen lassen wollte.
Asko stand auf, der Körper gestrafft, das Fell gesträubt.
Henning griff nach der Lampe, wartete, bis die Schritte näher kamen.
Dann drehte er das Licht auf und trat hinaus.
Der Lichtkegel schnitt durch den Nebel, fing für einen Sekundenbruchteil eine Gestalt ein – groß, dunkel gekleidet, das Gesicht im Schatten.
Der Mann stand still, dann drehte er sich abrupt um und verschwand zwischen den Bäumen.
Henning wollte hinterher, doch Asko stellte sich ihm in den Weg, bellte einmal tief.
Es war, als wollte er sagen, dass das Warten klüger war als die Jagd.
Er ging zurück in die Hütte, verriegelte die Tür.
Er wusste nun, dass jemand das Foto nicht nur genommen hatte, sondern auch wiederkommen würde.
Die Frage war nur, ob er auf Antworten aus war oder auf etwas anderes.
Henning setzte sich ans Feuer, Asko zu seinen Füßen.
In der Glut sah er wieder das Bild von damals: den Jungen, den er nicht kannte, und den Hund, der vielleicht nie aufgehört hatte, auf jemanden zu warten.
Er spürte, dass die Vergangenheit nicht nur durch Erinnerungen lebte.
Jemand trug sie wie einen Stein im Rucksack und dieser Jemand lief jetzt im gleichen Wald wie er.
Wer im Wald Schritte hinterlässt, weiß, dass irgendwann jemand ihnen folgen wird.