🐾 Teil 6: Der Name im Moos
Der Morgen danach war still, als hätte der Wald beschlossen, keine Spuren von der Nacht zu hinterlassen.
Doch Henning wusste, dass Stille manchmal nur ein dünner Deckel war, unter dem etwas gärte.
Er nahm die Lampe und ging hinaus, um den Boden um die Hütte zu prüfen.
Die nächtliche Feuchtigkeit hatte den Waldboden weich gemacht, und so war jeder Abdruck scharf gezeichnet.
Er folgte den Spuren, die in Richtung Bach führten.
Die Abdrücke waren tief, als hätte der Unbekannte schweres Gewicht getragen.
Zwischen den Stiefelspuren lag immer wieder der Abdruck einer schmalen Spitze, vielleicht ein Stock oder eine Gehhilfe.
Asko lief schweigend neben ihm, die Nase dicht über dem Boden, bis er abrupt stehen blieb.
Am Rand des Bachufers, wo das Wasser leise über Steine floss, lag ein kleiner Gegenstand im Moos.
Henning hob ihn auf.
Es war ein Messinganhänger, oval, abgenutzt, mit einer schmalen Gravur.
Er hielt ihn ins Licht.
Ein Name war zu erkennen, schwach, aber lesbar: Ralf.
Henning spürte einen kalten Stich in der Brust.
Das konnte Zufall sein aber alles in ihm sagte, dass es keiner war.
Er steckte den Anhänger in die Tasche und sah zu Asko, der den Blick auf den Bach gerichtet hielt, als erwarte er, dass dort jemand auftauchte.
Auf dem Rückweg dachte Henning an den Sommer 1973.
Er erinnerte sich an das erste Mal, als er Ralf gesehen hatte.
Anfangs hatten sie kaum gesprochen, aber der Junge war gut mit Asko umgegangen, besser sogar als Henning selbst.
Dann, ohne Vorwarnung, waren beide verschwunden.
Zurück in der Hütte legte er den Anhänger auf den Tisch neben das alte Halsband.
Die Verbindung war zu klar, um sie zu ignorieren.
Wenn Ralf noch lebte, war er vielleicht der Mann im Wald.
Doch was wollte er und warum jetzt?
Henning entschied, Alwine den Fund zu zeigen.
Er ging noch am selben Nachmittag zu ihr.
Sie nahm den Anhänger in die Hand, und ihr Gesicht veränderte sich.
„Das ist seiner. Vater hat ihn damals zur Firmung geschenkt.“
„Also lebt er?“
Alwine schüttelte den Kopf.
„Ich weiß es nicht. Ich habe nie wieder von ihm gehört. Aber wenn der Anhänger hier ist, dann war er auch hier.“
Henning sah sie an.
„Du verheimlichst mir etwas.“
Sie wich seinem Blick aus.
„Es gibt einen Grund, warum Ralf fortmusste. Aber das kann ich dir nicht sagen. Nicht jetzt.“
Die Worte brannten in seinem Kopf, als er zurückging.
Die Sonne stand tief, warf lange Schatten durch die Baumreihen.
Er hatte das Gefühl, dass ihm jemand folgte, doch jedes Mal, wenn er sich umdrehte, war da nur Asko.
Am Abend saß er am Feuer, den Anhänger in der Hand.
Er strich mit dem Daumen über die Gravur, bis sie warm wurde.
Asko legte den Kopf auf sein Knie, und Henning spürte die alte Verbindung zwischen Hund und Mensch.
Es war, als trüge das Tier die Erinnerung an jemanden, den die Zeit vergessen wollte.
Mitten in der Nacht wachte Henning auf.
Ein Laut hatte ihn geweckt, kein Knacken, sondern ein dumpfes Platschen.
Er griff nach der Lampe, öffnete leise die Tür.
Unten am Bach sah er eine Bewegung, schnell, geduckt.
Er ging ein Stück näher, bis er den Schein der Lampe auf das Wasser fallen ließ.
Für einen Augenblick meinte er, ein Gesicht zu sehen – schmal, eingefallen, aber mit etwas Vertrautem in den Augen.
Dann war es weg.
Am nächsten Morgen beschloss Henning, zum alten Moorsteg zu gehen.
Wenn Ralf hier war, würde er einen Ort aufsuchen, der ihnen beiden einmal vertraut gewesen war.
Der Steg war morsch, das Holz von Jahren und Wetter zerfressen.
Am Ende lag ein Bündel.
Henning öffnete es vorsichtig.
Darin befanden sich ein alter Wollschal, eine leere Konservendose und ein Stück Papier.
Darauf stand, in krakeliger Schrift: „Erinnert er sich?“
Henning spürte, wie sich die Kälte des Wassers unter den Planken in ihn hineinfraß.
Es ging nicht nur um den Hund.
Es ging um eine Erinnerung, die jemand von ihm verlangte und die er noch nicht hatte.
Er nahm das Papier an sich, ging zurück zur Hütte.
Asko begrüßte ihn mit einem tiefen Laut, der mehr Warnung als Freude war.
Henning verstand.
Der Wald hörte zu.
Manche Namen überdauern nicht in den Köpfen, sondern in den Schatten, die sie hinterlassen.