Die Kette am Baum | Ein angeketteter Hund im Wald und das Familiengeheimnis, das er zurückbringt

🐾 Teil 7: Der Sommer, der nie verging

Die Nacht war unruhig.
Henning wälzte sich auf der schmalen Pritsche, während draußen der Wind durch die Kronen ging und das Dach knarzte.
Immer wieder tauchte in seinen Träumen das Gesicht des Jungen auf, das er am Bach gesehen hatte.
Mal war es Ralf, mal war es er selbst als Kind.

Kurz vor Morgengrauen gab er das Schlafen auf.
Er legte Holz nach, setzte Wasser auf und starrte in die Flammen.
Das Stück Papier mit der krakeligen Schrift lag neben dem Messinganhänger.
„Erinnert er sich?“ – die Frage bohrte sich tiefer, je länger er sie ansah.

Henning ging hinaus, der Boden war noch hart gefroren.
Asko trottete neben ihm, Nase und Ohren wachsam.
Sie liefen in Richtung der kleinen Lichtung, auf der früher das Sommerzelt gestanden hatte.
Der Nebel lag tief, und jeder Schritt brachte ein Knirschen unter den Stiefeln.

Die Lichtung war überwachsen.
Nur ein paar halb verrottete Holzpfosten ragten noch aus dem Boden.
Henning blieb stehen.
Ein Geruch stieg ihm in die Nase, feucht und erdig, aber auch vertraut, wie nasser Hund und altes Lagerfeuerholz.
Plötzlich war er nicht mehr im Jahr 1994, sondern im Sommer 1973.

Er sah sich selbst als Kind, barfuß im Gras, das Hemd schief geknöpft.
Ralf stand ein paar Schritte entfernt, einen Stock in der Hand, Asko neben ihm.
Sie warfen kleine Steine in die Luft, die der Hund fangen sollte.
Es war ein warmer Tag gewesen, die Luft roch nach Heu.

Doch dann änderte sich das Bild.
Ein Mann trat aus dem Schatten, groß, mit groben Händen.
Henning erinnerte sich an die Angst, die ihn damals durchzuckte.
Der Mann sagte etwas zu Ralf, packte ihn am Arm.
Asko stellte sich dazwischen, knurrte tief.
Das Knurren brach ab, als der Mann etwas aus seiner Jacke zog – ein Stück Kette, blank im Sonnenlicht.

Henning schloss die Augen.
Die Erinnerung brach ab, bevor er sah, was dann geschah.
Aber er wusste jetzt, dass Ahlers damals schon dort gewesen war.

Er ging langsam zurück zur Hütte.
Der Himmel hatte sich aufgehellt, doch die Kälte blieb in seinen Knochen.
Drinnen setzte er sich an den Tisch, legte die Hände um den warmen Becher und dachte nach.
Wenn Ahlers vor zwanzig Jahren etwas mit Ralfs Verschwinden zu tun gehabt hatte, dann würde er heute genauso handeln, um die Wahrheit zu verbergen.

Am Nachmittag machte Henning sich auf den Weg ins Dorf.
Er wollte mit Gerta sprechen.
Sie kannte nicht nur Gerüchte, sondern hatte damals oft gesehen, wer ins Moor ging und wer zurückkam.

Gerta hörte ihm zu, als er von der Erinnerung erzählte.
Sie nickte langsam.
„Ich erinnere mich. Damals hieß es, der Junge sei abgereist. Aber ich habe nie jemanden gesehen, der ihn vom Bus abgeholt hat.“
„Und Ahlers?“
„Der war in der Woche oft verschwunden. Kam spät zurück, immer mit diesem Blick, den er hat, wenn er lügt.“

Henning verließ den Laden mit mehr Fragen als Antworten.
Auf dem Rückweg nahm er den Pfad am Bach entlang.
Dort, wo er den Anhänger gefunden hatte, kniete er sich ins Moos und suchte nach weiteren Spuren.
Er fand nur einen kleinen, in den Boden gedrückten Abdruck, zu schmal für Ahlers.
Vielleicht gehörte er tatsächlich zu Ralf.

Als die Sonne sank, kam Henning zurück zur Hütte.
Ein leises Bellen drang ihm entgegen.
Asko stand am Waldrand, fixierte etwas im Unterholz.
Henning folgte seinem Blick, dort stand jemand.

Die Gestalt war kaum zu erkennen, das Gesicht im Schatten.
Nur die Haltung wirkte seltsam vertraut.
Der Mann hob kurz die Hand, dann verschwand er zwischen den Bäumen.

Henning ging ein paar Schritte in den Wald, doch Asko stellte sich ihm in den Weg.
Der Hund knurrte nicht, aber sein Blick war fest, als wolle er sagen, dass jetzt nicht die Zeit war.

Zurück in der Hütte setzte sich Henning ans Feuer.
Die Flammen warfen Licht auf den Anhänger und das Papier.
Er wusste nun, dass er Ralf begegnet war, auch wenn nur flüchtig.
Die Frage war, ob Ralf Antworten brachte oder neue Ketten.

Manche Sommer enden nicht, sie lagern nur im Nebel, bis jemand den Weg dorthin zurückfindet.

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