Die Kette am Baum | Ein angeketteter Hund im Wald und das Familiengeheimnis, das er zurückbringt

🐾 Teil 8: Begegnung am Moor

Henning wachte im Halbdunkel auf.
Ein dumpfes Gefühl im Magen sagte ihm, dass dieser Tag anders werden würde.
Der Nebel hing tief über den Baumwipfeln, das Licht schien von innen heraus gedämpft.

Asko lag am Fußende, die Augen offen, als hätte er gar nicht geschlafen.
Henning setzte sich auf, zog die Stiefel an und entschied, dass er nicht länger warten konnte.
Wenn Ralf hier war, musste er ihn finden, bevor Ahlers es tat.

Er nahm den schmalen Pfad, der am Bach entlang ins Moor führte.
Die Erde war weich vom Regen, jeder Schritt hinterließ eine Spur.
Asko lief voraus, manchmal stehenbleibend, um zu lauschen.

Am Rand des Moors blieb Henning stehen.
Der Nebel lag wie eine Haut auf dem Wasser, der alte Steg ragte wie ein gebrochener Finger ins Grau.
Ein Geräusch ließ ihn aufhorchen, das Knarren von Holz, leise, aber eindeutig.
Er ging vorsichtig näher.

Am Ende des Stegs stand eine Gestalt.
Der Rücken war ihm zugewandt, die Schultern schmal, der Mantel zu groß für den Körper darunter.
Als Henning das erste Brett betrat, drehte sich die Gestalt um.
Das Gesicht war schmal, eingefallen, die Wangen von Bartstoppeln bedeckt.
Doch die Augen waren dieselben wie auf dem Foto von 1973.

„Ralf.“
Der Name hing zwischen ihnen wie ein Seil, das sich langsam straffte.

Ralf sagte nichts, sondern ließ den Blick an Henning vorbeigleiten, zu Asko, der am Stegrand stand.
Etwas in seinem Gesicht brach auf – ein Zittern um den Mund, ein schneller Atemzug.
„Er lebt“, flüsterte Ralf schließlich.

Henning trat näher.
„Du hast ihn angekettet im Wald zurückgelassen.“
Ralf schüttelte den Kopf.
„Nein. Ich habe ihn befreit. Aber er ist mir entwischt, bevor ich ihn sicher unterbringen konnte. Jemand anderes hat ihn wiedergefesselt.“

Henning wollte glauben, was er hörte, aber der Schatten von Ahlers hing über allem.
„Was ist damals geschehen?“
Ralf sah hinaus ins Moor, als suchte er im Wasser die Worte.
„Ahlers wollte Vater unter Druck setzen. Er behauptete, Vater schulde ihm Geld. Ich habe gehört, wie er sagte, dass er den Hund nimmt, bis er kriegt, was er will. Als ich Asko holen wollte, hat er mich gepackt. Ich bin weggelaufen, aber nicht weit genug. Danach… bin ich nicht zurückgekommen.“

Henning spürte, wie alte Wut in ihm aufstieg.
„Und all die Jahre? Kein Wort, kein Zeichen?“
„Ich konnte nicht zurück. Er hätte mich gefunden. Ich habe mich durchgeschlagen, aber ich habe ihn nie vergessen. Als ich hörte, dass Ahlers wieder einen Hund gefesselt hat, wusste ich, dass es unserer war. Also bin ich gekommen.“

Ein dumpfes Geräusch ließ sie beide aufhorchen.
Schritte im Schilf, schwer und unbeirrt.
Asko stellte sich vor Henning, das Fell gesträubt, der Blick starr in den Nebel.

Aus der weißen Wand trat Ahlers.
Sein Gesicht war gerötet, die Augen schmal.
„Na, ein schönes Wiedersehen“, sagte er.
„Zwei Falkners und der Köter.“

Henning spürte, wie sich seine Hände zu Fäusten ballten.
„Es ist vorbei, Ahlers.“
„Vorbei? Nichts ist vorbei. Der Hund gehört mir.“

Ralf trat einen Schritt vor.
„Er gehört niemandem. Er ist frei.“
Ahlers lachte kurz, ein Laut ohne Freude.
„Frei? Nichts im Moor ist frei. Alles gehört dem, der stark genug ist, es zu halten.“

Die Luft zwischen ihnen war zum Zerreißen gespannt.
Henning wusste, dass er hier nichts mit Worten gewinnen würde.
Er stellte sich neben Ralf, Asko zwischen ihnen.

„Du kommst nicht an ihn heran“, sagte Henning.
Ahlers machte einen Schritt, doch Asko knurrte tief, ein Laut, der das Moor still werden ließ.
Ahlers blieb stehen, spuckte ins Wasser und ging zurück in den Nebel, ohne ein weiteres Wort.

Die Stille, die folgte, war schwer.
Ralf atmete tief durch.
„Er wird nicht aufgeben.“
Henning nickte.
„Dann bleiben wir zusammen. Bis es zu Ende ist.“

Sie gingen zurück zur Hütte, der Nebel schloss sich hinter ihnen.
Zum ersten Mal seit Jahren fühlte Henning, dass er nicht mehr allein war.
Doch er wusste auch, dass das, was kam, härter werden würde als alles zuvor.

Manche Begegnungen beenden keine Geschichte, sie öffnen nur das Kapitel, vor dem man am meisten Angst hatte.

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