🐾 Teil 4: Zofia unter dem Licht
Sie trugen die Frau in eine Decke geschlagen die Treppe hinunter. Sie war leicht wie jemand, der eine Last ablegt, ohne zu wissen, dass sie noch an den Knöcheln hängt. Draußen wartete der Platz. Die Kerzen sahen aus, als seien sie dafür gemacht worden, Menschen auf Plätzen zu empfangen. Arguna flog ihnen voran und setzte sich auf den Rand des Brunnens.
Sie legten die Frau auf die Bank. Der Wind ging vorsichtig durch ihr Haar. Augustin hielt ihre Finger, als seien sie die letzten, die er in dieser Form in Erinnerung behalten wolle. Jorin setzte sich an die Seite. Leopold stand hinter der Bank, bereit, die Decke höher zu ziehen oder tiefer, wie es die Luft verlangte.
Die Frau öffnete die Augen. Sie blickte in das Glas der Laterne. Es brannte wieder. Der Strom war zurück. Man sah das Licht in ihren Pupillen. Augustin sagte ihren Namen. Zofia. Leise. So, als könnte der Name zu schwer werden, wenn man ihn laut sagt.
Zofia lächelte. Es war kaum zu sehen und doch so groß, dass der Platz anders wurde. Sie sagte, dass sie die Krähe hören könne. Keiner hatte je gesagt, dass Arguna nicht spreche. Und doch fühlte es sich an, als hätte das Tier in diesem Moment eine Stimme.
Sie blieben, bis die Frau ruhiger atmete. Dann brachten sie sie zurück. Augustins Dank war kein Wort. Es war ein Blick, der länger blieb, als er musste. Er legte eine getrocknete Kornblume auf den Brunnenrand.
Am nächsten Tag war der Platz früher belebt. Jemand hatte einen Zettel aufgehängt. Es stand darauf, dass man am Samstag für Clara eine Stunde Stille halten wolle. Keine Musik. Keine Reden. Nur Stille. Wer kommen wolle, solle kommen. Wer nicht kommen könne, solle einen Gedanken schicken.
Der Samstag kam. Der Himmel war wie ein Tuch, in das jemand mit dem Finger eine Narbe gezogen hatte. Die Menschen standen. Manche setzten sich. Kinder hielten ihre Hände in die Taschen. Hunde, die vorbeikamen, blieben stehen, als hätten sie die Leine vergessen. Arguna saß lange. Als die Stille fast zu schwer wurde, ließ sie eine Feder fallen, die unter der Laterne zu landen schien, ohne je den Boden zu berühren.
Später, nach der Stunde, blieb niemand lange. Es war, als wüssten alle, dass man das, was man eben getan hatte, nicht beschreiben darf, ohne es zu verlieren. Nur Leopold blieb mit Jorin zurück. Sie sprachen über Arbeit. Jorin sagte, dass er die Werkstatt wieder öffnen wolle.
An drei Nachmittagen. Für alte Uhren. Für Menschen, die warten können. Leopold nickte. Er sagte, dass er sich bewerben werde, im Pflegeheim in Pirna, wenn sie wieder jemanden brauchen. Bis dahin könne er helfen. Hier. Bei der Laterne.
In den Tagen danach begann ein Ritual, das niemand geplant hatte. Wer Kummer hatte, setzte sich eine Minute unter das Licht. Wer eine Entscheidung brauchte, legte die Hand an das Holz und zählte bis sechs. Wer sich freute, stellte eine kleine Blume hin, die nicht lange hielt und doch lang genug, um gesehen zu werden.
Auf dem Zettel unter Claras Namen stand nun ein zweiter. Zofia. Daneben kein Geburtsjahr. Nur ein leerer Strich. Nicht als Drohung. Als Platzhalter für Hoffnung.
Eines Abends kam Regen, ohne Wind. Er fiel senkrecht. Die Tropfen hüteten jede Flamme. Die Laterne brannte allein. Jorin und Leopold saßen und schwiegen. Dann sagte Leopold, dass er in Dresden eine Schwester habe.
Lila. Seit Jahren kein Wort. Ein Streit, der so klein begann, dass keiner mehr wusste, wo die Tür ist. Er würde schreiben. Das Licht passe auf Briefe auf. Jorin sagte, er solle es tun. Er sagte auch, dass er selbst Marga mehr sagen könne, wenn er abends hier sitze. Nicht weil sie antworte. Weil das Licht einen nicht anlüge, wenn man sprach.
Da trat eine Frau an die Bank, die sie noch nicht gesehen hatten. Sie trug einen Mantel mit reparierten Nähten. Sie stellte eine Schale ab. Darin lag etwas Dunkles. Es waren Pflaumen. Aus ihrem Garten. Für Clara, sagte sie. Dann sah sie das Messingglöckchen. Sie berührte es, als ob man durch Metall hindurch beten könne.
In dieser Nacht blieb auf dem Zettel ein neuer Satz. Wenn ich sterbe, möchte ich kurz hier vorbeischauen.
Der Satz hatte keine Unterschrift.
Und am nächsten Morgen lag auf der Bank ein Bündel Briefe. Jemand hatte sie abgegeben. Ungestellt. An Marga. An Lila. An Zofia. An Clara.
Jorin nahm sie auf. Er roch Papier und Fingerspitzen. Er wusste, dass man manchmal Lesen spielt, indem man nur hält. Er legte sie unter die Laterne. Das Licht machte keinen Unterschied zwischen alt und neu.
Da hörten sie den Ruf der Krähe. Ein langgezogener Bogen. Und aus der Gasse trat ein Hund. Dünn. Verfilztes Fell. Kein Halsband. Er blieb im Schatten stehen. Er sah zur Laterne, als wüsste er etwas, das sie alle noch nicht wussten.