Die Laterne am Marktplatz | Unter der Laterne blieb ein Platz frei, und ein Dorf lernte, leise zu lieben hier

🐾 Teil 5: Naraq tritt ins Licht

Der Hund stand, bis die Kinder von der Schule kamen. Dann verschwand er. Am Abend war er wieder da. Näher. Seine Flanken zeigten, wie Hunger in einen Körper schreiben kann. Er war kein Welpe. Vielleicht fünf Jahre. Seine Augen hatten die Farbe von nassem Holz. Jorin ging nicht auf ihn zu. Er drehte sich nur so, dass die Front seiner Stille dem Hund zugewandt war.

Leopold stellte eine Schale mit Wasser an den Rand des Lichts. Der Hund trank, lange, ohne Geräusch. Er hob den Kopf und sah die Messingglocke. Arguna kippte den Kopf und sah ihn ebenfalls an. Zwei Tiere, deren Wege sich nicht kreuzen, und doch kreuzte hier etwas.

Die Frau mit den Pflaumen kam wieder. Sie stellte ein Stück gekochtes Gemüse auf die Bank. Der Hund kam nicht näher. Er wartete, bis sie ging. Dann fraß er langsam, als wolle er das Essen nicht so kränken, dass es suchte, warum es verschmäht wurde.

Die Abende legten neue Gewohnheiten auf den Platz. Man grüßte den Hund, ohne ihn zu rufen. Manchmal legte ein Kind den Ranzen ab und setzte sich einen Moment neben das Wasser. Dann passierte etwas. Der Hund hockte sich, nicht zu nahe, nicht zu weit, in die Nähe des Kindes. Er legte den Kopf auf den Stein. Das Kind atmete leiser.

Jorin suchte in der Werkstatt eine alte Lederschnur. Er reinigte das Messingglöckchen. Er polierte es nicht. Er ließ den Fingerabdruck der letzten Wochen darauf. Er hielt es neben die Laterne. Er fragte nicht laut. Er wusste, dass Fragen in dieser Stärke auch ohne Stimme klar sind.

Leopold las inzwischen die Briefe, die niemand abgeholt hatte. Er las sie nicht wirklich. Er öffnete sie nicht. Er legte die Hand auf das Papier. Er sagte die Namen. Marga. Lila. Zofia. Clara. Man kann Namen sagen, ohne jemanden zu rufen. Und doch kommen sie herüber, wie jemand, der vom anderen Ufer winkt.

Eines Abends, als die Luft nach Moos roch und der Fluss hoch ging, trat der Hund in den Kreis des Lichts. Er blieb stehen. Er atmete. Die Messingglocke schimmerte. Jorin hielt sie, wie man etwas hält, das gleichzeitig Vergangenheit und Zukunft ist. Er streckte die Hand aus. Der Hund zuckte nicht. Er ließ zu, dass die Schnur sein Fell berührte. Es gab keinen Knoten. Nur eine Schleife, die man lösen konnte, ohne zu ziehen.

Leopold lächelte. Er sagte, dass Namen nicht immer wie Rufe klingen müssen. Man könne einen Namen aus Wasser bauen. Aus Wind. Aus Licht. Jorin nickte. Er sagte den Namen, der ihm einfiel. Naraq. Ein Wort ohne Geschichte. Ein Ton, der trotzdem bleibend war.

Naraq blieb. Nicht jede Nacht. Doch oft genug, dass man merkte, dass auch das Zögern eine Form von Vertrauen ist.

Zofia saß wieder auf der Bank. Ihre Haut hatte Farbe vom Schlaf. Augustin brachte eine Decke. Die Krähe wechselte mehrmals den Platz, als müsse sie die Bewegungen dieser neuen Ordnung lernen.

In einer Nacht, die so still war, dass man den Sand im Brunnen hörte, der sich setzte, blieb Naraq plötzlich stehen. Seine Ohren hoben sich. Er knurrte nicht. Er ging in Richtung der Seitengasse. Jorin folgte ihm. Leopold blieb an der Laterne, falls jemand käme.

In der Gasse roch es nach feuchter Pappe. Hinter den Tonnen war Bewegung. Ein Kind saß da. Kein großes. Vielleicht acht. Es hielt die Knie dicht am Körper. Es roch nach kaltem Rauch. Seine Augen waren groß. Es sagte nichts. Naraq setzte sich. Er sah nicht hin. Er atmete ruhig.

Jorin kniete. Er sagte seinen Namen. Er sagte den des Kindes nicht, bis das Kind ihn selbst sagte. Tilda. Sie sei weggelaufen. Nicht weit. Nur bis hier. Weil Zuhause laut war. Weil es dort keine Laterne gab.

Jorin reichte die Hand. Tilda griff nicht. Naraq stand auf und ging zwei Schritte. Er hielt an. Er sah das Kind an, als gehöre es wie er zum Rand des Lichts. Tilda legte ihm die Hand in das Fell. Es war kein Besitz. Es war eine Rückkehr.

Sie gingen zusammen zum Platz. Die Leute sahen nicht lange hin. Man sah nur so viel, wie man braucht, um Verantwortung zu bemerken, ohne sie zu beschmieren.

Und in dieser Nacht sagte Leopold zu Jorin den Satz, der alles zusammenband. Dies ist ein Ort geworden. Kein Zufall. Kein Trostpflaster. Ein Ort.

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