Die Laterne am Marktplatz | Unter der Laterne blieb ein Platz frei, und ein Dorf lernte, leise zu lieben hier

🐾 Teil 6: Stimmen im Kreis

Tilda kam nach der Schule mit einem Buch. Sie setzte sich unter die Laterne und las laut. Nicht für jemanden Bestimmten. Für das Licht. Für das Atmen der Bank. Für die Krähe, die ihre Laute dazwischen setzte, als wolle sie den Zeilen Atempausen schenken. Naraq lag neben der Bank. Seine Augen waren offen. Er bewegte sich erst, wenn die Seite umgeblättert wurde.

Die Mutter kam. Sie stand am Rand. Ihre Hände waren offen. Kein Vorwurf. Nur Müdigkeit und die Bitte, das Kind wieder in die eigene Lautlosigkeit falten zu dürfen. Tilda sah sie an. Sie nickte. Sie sagte, dass sie hier kurz Atem finden könne, ohne gegen Türen zu stoßen. Die Mutter setzte sich für eine Minute auf den Brunnenrand. Sie sagte ihren ganzen Namen. Daria Nemetz. Die Dinge bekamen Ränder.

Leopold schrieb den nächsten Brief. Diesmal an sich selbst. Er legte ihn nicht unter die Laterne. Er steckte ihn in die Jacke. Er ging danach zur Werkstatt. Jorin hatte die Tür offen. Drinnen roch es wieder nach Öl und Staub. Eine Uhr tickte schrill, als hätte sie Angstanfälle. Er stellte sie ein. Er ließ sie weiterticken. Langsamer. Zutraulicher.

Zofia kam vorbei und blieb nicht lange. Sie legte eine Tasse mit Lindenblüten auf den Tisch. Für den Abend. Dann lächelte sie und ging, ihren Arm in Augustins Arm, als habe die Nacht beschlossen, schon am Nachmittag den Boden warm zu halten.

Naraq trug die Messingglocke inzwischen an einem schmalen Band, das er abstreifen konnte. Er ließ es, wenn er ging, an der Laterne. Jorin befestigte dafür ein kleines Häkchen am Holz. Kein Ritual. Eine Gewohnheit, die niemand erfunden hatte und doch jeder verstand.

Eines Tages tauchte ein Mann vom Rathaus auf. Er war freundlich. Er fragte, ob man den Platz offiziell für eine Stunde am Abend „ruhig stelle“. Er benutzte Büro-Worte, die sich anfühlten wie Steine, die man erst im Mund drehen muss, bevor man sie hinlegen kann. Jorin nickte. Es war ihm gleichgültig, wie sie es nannten. Solange niemand das Licht neu benannte.

Die Stunde der Stille wurde hingeschrieben. Nicht auf Schilder. In die Körper. Menschen gingen leiser durch diesen Raum. Selbst die Fahrräder schoben sich. Es war keine Andacht. Es war ein Einverständnis, das unter den Sohlen lag.

Dann kam der Winter. Der erste Schnee fiel als feiner Staub. Die Laterne zeichnete einen Kreis auf die weiße Oberfläche. Kinder zeichneten daneben ihre Namen und ließen sie vom Wind wegtragen. Naraq sprang einmal durch das Licht und blieb wieder liegen. Seine Atemwolke erschien und verschwand.

In einer kalten Nacht blieb die Werkstatttür zu. Jorin war nicht da. Leopold wartete an der Laterne, bis die Stunde der Stille fast vorbei war. Dann ging er die Straße hinunter. Er fand Jorin am Fenster. Der Mann saß still, so still, dass man hätte glauben können, er sei Teil der Luft geworden. Auf dem Tisch lag ein Brief. An Marga. Ungeöffnet. Jorin sah auf. Seine Augen waren klar. Er sagte, dass er ihn morgen lesen wolle, unter der Laterne.

Am nächsten Abend stand der Platz voller, ohne laut zu sein. Jorin öffnete den Brief. Er las nicht laut. Er las mit dem Gesicht. Man sah die Zeilen in den Muskeln. Als er fertig war, legte er das Papier auf die Bank. Er sagte, dass Marga ihm vergab, dass er so lange gebraucht habe, um wieder zu sprechen. Niemand fragte, wie er das wusste. Manche Dinge weiß man, wie man weiß, wann der Winter die Fenster beschlägt.

Dann trat Lila auf den Platz. Leopolds Schwester. Sie hatte den Brief bekommen. Sie hatte geantwortet. Nicht mit Worten. Mit Schritten auf Kopfsteinpflaster. Sie stand unter der Laterne und lächelte, ungeschickt, wie jemand, der nach Jahren in einem Zimmer wieder hinausgeht und das Licht neu wahrnimmt. Leopold sah sie an. Seine Schultern wurden leichter. Er sagte nur ihren Namen. Sie sagte seinen. Dann setzte sie sich.

Und in diesem Glück, das nicht lärmte, stand plötzlich eine junge Frau am Rand des Lichts und sagte, sie sei vom Tierheim. Man habe Naraq gesehen. Man suche ihn. Man suche ihn nicht, um ihn einzusperren. Man wolle nur wissen, ob er jemandem gehöre. Der Platz hielt den Atem an.

Jorin sah auf das Band an der Laterne. Er sah dann auf Naraq. Er sagte mit ruhiger Stimme, dass der Hund hier sei, wenn er sein wolle. Dass er gehe, wenn er gehen müsse. Die Frau nickte. Sie sagte, dass sie das verstehe. Sie zeigte eine kleine Narbe an ihrem eigenen Handgelenk. Sie sagte, dass Vertrauen eine Arbeit sei, die man nicht immer bezahlt bekommt. Sie setzte sich eine Minute und ging dann.

Und während sie ging, läutete zum ersten Mal seit Wochen die Messingglocke.

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