🐾 Teil 8: Der Platz spricht
Der Frühling 2010 kam spät. Die Bäume taten so, als müssten sie sich erst erinnern, wie Grün geht. Als es endlich kam, stand die Bank im Duft von Erde. Die Laterne war sauber. Augustin hatte die Schrauben nachgezogen. Die Stadt hatte ein kleines Schild angebracht, auf dem keine Namen standen. Nur ein Satz. Hier wird gehört.
Tilda las inzwischen aus anderen Büchern. Sie brachte Geschichten, die sie sich selbst ausdachte. Einmal erzählte sie von einem Mädchen, das sein Herz auf einer Laterne trocknete, bis es wieder schlug. Die Leute lachten nicht. Sie nickten. Kinder wissen, wovon sie sprechen, wenn man ihnen nicht dauernd dazwischenredet.
Naraq war geblieben. Sein Fell war dichter geworden. Er schlief häufiger im Schatten der Bank. Wenn die Stunde der Stille begann, legte er den Kopf auf die Pfoten. Seine Ohren rührten sich bei jedem Schritt, der in den Kreis trat.
Leopold arbeitete zwei Tage die Woche im Pflegeheim in Pirna. Er kam abends zurück. Er roch nach Seife und Metall. Lila hatte eine kleine Arbeit in der Bibliothek gefunden. Sie kam mit auf den Platz, wenn die Sonne ihren letzten Rand zeigte.
Jorin reparierte Uhren und manchmal Schuhe. Er deutete nicht an, dass sein eigenes Herz ruhiger geworden war. Er musste es nicht. Man sah es in der Art, wie er den Schraubenzieher am Ende in die Schublade legte.
Eines Abends trat der Mann vom Rathaus wieder heran. Er sagte, dass es Anfragen gebe. Aus anderen Orten. Man habe gehört, was hier geschehe. Ob man es erklären könne. Ob man es nachbauen dürfe. Jorin lächelte. Er sagte, dass man Laternen überall findet. Dass es aber Menschen brauche, die bereit sind, ihre Eile abzugeben. Dafür gebe es keine Schablone. Der Mann nickte und ging, nicht beleidigt, nur nachdenklich, als müsse er in seiner Sprache einen anderen Ton suchen.
Dann kam ein Tag, an dem der Himmel so blau war, dass das Auge fast wehtat. Kinder liefen über den Platz. Eine Frau blieb stehen, die niemand kannte. Sie trug ein Tuch, das nach Küste aussah. Sie setzte sich und weinte. Ohne Geräusch. Naraq stand auf. Er legte den Kopf an ihre Knie. Sie legte die Hand auf seinen Schädel. Sie sagte einen Namen. Er war nicht deutsch. Es war der eines Menschen, der weit weg gestorben war. Die Laterne hielt auch diesen Klang.
Am späten Abend, als die Bank leer war, setzte sich Jorin allein. Er legte das Messingglöckchen auf die Hand. Er wollte es mit nach Hause nehmen und konnte es nicht. Er ließ es da. Arguna flog über ihn hinweg. Sie landete nicht. Sie zog einen Kreis und verschwand hinter den Dächern.
Das war der Abend, an dem die Laterne zum ersten Mal ohne die Krähe summte. Es war ein anderer Ton. Kein Verlust. Eine Veränderung. Man hört so etwas, wenn man jeden Abend da ist. Man weiß dann, dass Treue auch darin besteht, die Formen ihres Auftretens nicht zu verengen.
Und in dieser neuen Ruhe hörte Jorin plötzlich die Schritte, die er kannte, ohne sie je gehört zu haben. Jemand trat an die Bank. Er blieb im Schatten. Er sagte einen Namen, den nur Marga ihm so gegeben hatte. Es war der seines Vaters. Er kam aus seinem eigenen Mund. Jorin erschrak über diesen Klang. Er lächelte. Er verstand, dass etwas in ihm aufgegangen war, das lange geschlossen gewesen war.
Am nächsten Morgen stand die Werkstatttür offen. Auf dem Tisch lag ein Zettel. Heute schließe ich eine Uhr, die nie tickte. Er ging zum Platz. Er wusste, was zu tun war.