🐾 Teil 10: Der Platz bleibt frei
Der Sommer kam, als wolle er beweisen, dass Wärme heilen könne. Die Laterne war nun ein Ort, der keiner Erklärung mehr bedurfte. Die Stadt hatte versucht, das zu fassen, was hier geschah. Sie war klug genug, damit wieder aufzuhören.
Jorins Werkstatt blieb geschlossen. Nicht verschlossen. Nur zu. In der Scheibe spiegelte sich am Abend die Laterne. Auf dem Tisch lag seine Holzschachtel. Darin die zweite Schnur und ein Zettel. Wenn Naraq bleiben will. Die Tür blieb damit nicht leer. Sie war ein Zimmer, das auf ein anderes Zimmer zeigte.
Tilda wurde größer. Ihre Schritte wurden länger. Sie las seltener laut. Aber wenn sie las, setzte sie die Pausen genau an die Stellen, an denen der Wind drehte. Daria arbeitete wieder mehr. Ihre Augen hatten weniger Schatten. Sie blieb dennoch manchmal sitzen, wenn die Stunde der Stille endete. Es ist nicht leicht, Heimweg zu nennen, was einmal Flucht war. Doch man kann es üben.
Augustin ölte die Bank weiter. Er tat es, als pflege er einen alten Freund. Er sprach dabei mit Zofia. Nicht laut. Nur so, dass die Hände wussten, was sie taten.
Lila und Leopold gingen durch die Stadt, ohne sich zu verstecken. Sie stritten sogar einmal unter der Laterne, leise, mit Händen, die trotzdem nebeneinander blieben. Danach lachten sie, weil sie merkten, dass man Frieden nicht verhindert, indem man ihn vorsichtig formuliert.
Eines Abends blieb Naraq weg. Der Platz war nicht leerer. Er war nur fragend. Die Messingglocke hing am Haken. Sie schwang nicht. Kinder sahen zur Gasse. Jemand legte Wasser hin. Es blieb unberührt.
Am nächsten Morgen kam Naraq. Langsam. Sein Blick war ruhig. Er trug etwas im Maul. Es war ein Stück Stoff. Blau. Eine alte Spur von Marga. Er legte es auf die Bank. Niemand wusste, woher er es hatte. Jorin hätte gewusst, welcher Stuhl in der Küche es einmal bedeckt hatte. Man muss nicht alles wissen. Man darf dankbar sein.
Von diesem Tag an blieb Naraq öfter. Er lag unter der Bank. Wenn die Stunde der Stille begann, hob er den Kopf. Er lauschte. Er nahm den Ton der Glocke auf, den sie nicht gab, und trug ihn, als sei er durch Fell hörbar.
Der Platz änderte sich nicht und doch alles. Man begann, sich an Dinge zu halten, die man nicht festhalten kann. Man übte, Namen zu sagen, ohne Schmerz zu fürchten. Man ließ Menschen Platz, zu sitzen, ohne erzählt zu werden.
Am Jahrestag von Claras Gehen stellten sie eine Schale mit Wasser hin, auf der kleine Blüten schwammen. Sie legten die Pflaumenschale der Frau dazu. Die Stadt ließ die Lampenschirme reinigen. Die Kinder banden ein Band um den Pfosten, das man nur sah, wenn man genau hinsah.
Abends kamen sie zusammen. Niemand hielt eine Rede. Augustin legte die Hand auf das Holz. Tilda legte das Buch neben die Glocke. Lila nahm Leopolds Hand. Daria stand im Schatten und nickte. Der Mann vom Rathaus war da und blieb in der zweiten Reihe. Es war recht so.
Jemand läutete die Glocke. Einmal. Für Clara. Einmal. Für Arguna. Einmal. Für Zofia. Dann legte Naraq die Schnauze an das Metall. Ein vierter Ton. Für das, was nicht verlernt werden darf.
Da kam eine Frau, die man nicht kannte. Sie trug die Art Traurigkeit, die leuchtet, wenn man sie nicht deckt. Sie setzte sich. Sie stellte keine Frage. Sie hielt nur die Hände. Man verstand. Man rückte. Man machte Platz, ohne die Kreise zu brechen.
Die Laterne summte. Es war derselbe Ton wie am ersten Abend und doch reicher. Er trug Briefe, Atem, Schritte, Kinderstimmen, Pfoten, Flügel. Er trug die kleine Glocke, die nun mehr war als Metall. Er trug die Fähigkeit eines Dorfes, sich jeden Abend neu zu treffen, ohne den Grund zu wiederholen.
Als die Stunde der Stille endete, blieb niemand sofort. Man blieb, wie man bleibt, wenn man etwas gelernt hat, das nicht im Kopf sitzt. Man sah in das Licht. Man sah auf die Bank. Der Platz atmete.
Und im Atem lag Clara. Kein Bild. Kein Wort. Nur Anwesenheit. Die Art, wie Hunde bleiben, wenn sie gehen. Ein Geruch von Wolle. Ein Gewicht, das nicht drückt. Eine Ordnung, die man nicht erfindet. Eine Treue, die man übt.
Die Glocke schwieg. Das war richtig. Nicht jeder Abend braucht einen Ton. Manche Abende sind vollständig, wenn sie summen.
Der Wind wehte über die Dächer. Die Laterne hielt. Naraq legte den Kopf auf die Pfoten. Die Kinder gingen nach Hause, langsamer. Augustin löschte die Kerze am Brunnen. Lila und Leopold blieben noch einen Atemzug, dann zwei. Daria führte Tilda an der Schulter aus dem Licht.
Der Platz wurde wieder ein Teller. Das Gelb der Häuser trug den Abend in seinen Rändern. Auf dem Zettel, der längst ein neues Blatt war, stand ein Satz, den jemand in kleiner Schrift geschrieben hatte.
Hier ist der Platz frei. Für alle, die etwas tragen. Und für die, die nicht mehr müssen.
So blieb die Laterne. Nicht als Denkmal. Als Alltag. Als kleine, beharrliche Antwort auf die Fragen, die man nicht stellt, weil sie größer sind als die Stimme.
Und niemand, der daran vorbeiging, blieb unberührt. Man wurde leiser. Man wurde wahrhaftiger. Man wurde genug.