🔹 Teil 4
Der September zog mit einer Ruhe über das Land, wie sie nur in kleinen Dörfern zu finden ist.
Die Felder lagen abgeerntet da, nur vereinzelte Stoppeln reckten sich dem grauen Himmel entgegen.
Karl-Heinz ging jeden Tag zum Apfelbaum.
Nicht aus Pflicht.
Sondern weil es ihn zog – wie früher das Heu, wie früher der Hund.
Er sprach nicht laut.
Aber in Gedanken erzählte er Bastian alles:
Vom Wetter.
Vom Butterpreis im Dorfladen.
Vom kleinen Jungen mit den traurigen Augen.
Und davon, wie leer die Bank vor dem Haus jetzt wirkte.
Eines Abends holte er aus der Schublade der alten Kommode ein verstaubtes Briefpapier.
Dazu einen Füller mit goldener Kappe.
Beides hatte er seit Jahren nicht mehr benutzt.
Er setzte sich an den Tisch.
Zog die Brille tiefer.
Und begann zu schreiben.
Nicht an seine Kinder.
Nicht an das Amt.
Sondern an Bastian.
„Lieber Bastl,
*Ich weiß, das klingt komisch – einem Hund zu schreiben. Aber es gibt Dinge, die ich dir nie gesagt hab.
Du warst kein Tier. Du warst ein Teil von mir. Ein stummer Zeuge all der Jahre. All der Verluste.Weißt du noch, wie du meine Hand abgeleckt hast, als Elfriede starb? Ich dachte, ich zerbreche damals. Aber du warst einfach da.
Heute kam ein Junge. Er sagt, du hättest ihn geführt. Ich glaube ihm. Du warst immer klüger als ich.
Ich werde dir noch öfter schreiben.“*
Er faltete den Brief ordentlich.
Legte ihn in eine leere Keksdose.
Und stellte sie auf die Fensterbank, direkt neben das Foto von Bastian.
Es war das erste von vielen.
Mit jedem neuen Brief schien die Luft im Haus leichter zu werden.
Karl-Heinz schrieb über Dinge, die niemand je hörte:
Über Schuld.
Über verpasste Chancen.
Über ein Leben, das er oft zu ernst genommen hatte.
Und über den stillen Wunsch, noch einmal jemandem wichtig zu sein.
Moritz kam wieder.
An einem Donnerstagnachmittag.
Einfach so.
Mit Apfelsaft und einem alten Fußball unter dem Arm.
„Ich wollte sehen, ob der Baum größer geworden ist“, sagte er.
Karl-Heinz nickte.
„Ist er. Und du auch.“
Sie saßen gemeinsam auf der Bank.
Der Junge erzählte von der Schule.
Vom Streit mit seiner Mutter.
Von einem Hund, den er sich wünschte.
„Ich hab keinen Vater“, sagte Moritz irgendwann leise.
„Aber wenn ich einen hätte…
Dann wär er vielleicht wie du.“
Karl-Heinz sagte nichts.
Aber er legte ihm die Hand auf die Schulter.
Und spürte, wie das Zittern darin zum ersten Mal seit Wochen nachließ.
Am Abend schrieb er wieder.
„Bastl,
*Der Bub ist wieder da gewesen. Ich hab nicht gefragt, ob er’s darf. Ich hab’s einfach genossen.
Manchmal denke ich, du hast ihn mir geschickt. Nicht zum Trösten – sondern zum Erinnern.
Vielleicht braucht nicht nur ich jemanden. Vielleicht braucht auch er einen.“*
Im Radio lief eine alte Polka.
Der Regen prasselte gegen das Dach.
Und in der Küche roch es nach Pfefferminztee und ein wenig Hoffnung.
🔹 Teil 5
Der Oktober brachte kühle Nächte und das erste Brennholz im alten Ofen.
Der Apfelbaum zeigte kleine rote Spitzen an den Knospen – kein echtes Obst, nur das Versprechen, dass er lebte.
Karl-Heinz trank nun morgens den Tee am Fenster, wo er den kleinen Hügel sehen konnte, auf dem der Baum wuchs.
Die Keksdose mit den Briefen füllte sich.
Moritz kam fast jeden Donnerstag.
Und dann, an einem Samstag, parkte ein silberner VW Passat vor dem Tor.
Zwei Türen fielen zu.
Eine Stimme rief:
„Hallo? Papa?“
Karl-Heinz trat vors Haus, die Hände in den Hosentaschen, der Rücken krumm.
Am Zaun stand seine Tochter, Jana.
Daneben ein Mann mit Aktentasche, den er vom letzten Weihnachtsfoto erinnerte.
„Wir waren in Regensburg – dachten, wir schauen mal vorbei.“
Er sagte nichts.
Er nickte nur.
Dann drehte er sich um.
„Kommt rein. Der Ofen ist an.“
In der Küche war es stiller als sonst.
Jana schaute sich um.
„Hier hat sich nichts verändert.“
„Nur dass keiner mehr da ist“, entgegnete er.
Sie seufzte.
„Papa, ich… wir machen uns Sorgen. Der Arzt hat gesagt—”
„Ich weiß, was der Arzt gesagt hat.“
Der Mann mit der Aktentasche – wahrscheinlich Martin, der Schwiegersohn – räusperte sich.
„Jana hat da eine Broschüre mitgebracht. Es gibt ein gutes Heim in der Nähe von Freiburg.“
Karl-Heinz stand auf.
Ging ans Fenster.
Der Apfelbaum leuchtete im Abendlicht.
„Ich habe hier zu tun“, sagte er.
„Was denn?“ fragte Jana sanft.
„Ein Grab pflegen. Einen Baum wachsen sehen. Und Briefe schreiben, die niemand liest.“
Sie schwieg.
Martin nicht.
„Sie könnten da Leute treffen. Gleichaltrige. Gesellschaft. Das wäre doch—”
„Ich habe Gesellschaft. Ein Junge kommt. Er hat mehr Herz als jeder, den ich kenne.“
Die Stille wurde schwer.
Jana trat näher.
„Papa… ich hab früher oft anrufen wollen. Aber du bist nie ans Telefon.“
„Vielleicht, weil ich nichts hören wollte.“
Seine Stimme war brüchig.
„Ihr wart doch längst weg.“
Sie legte ihm die Hand auf den Arm.
„Wir sind nie ganz weg gewesen. Wir wussten nur nicht, wie man zurückkommt.“
Am Abend saßen sie noch eine Weile auf der Bank vorm Haus.
Die Tochter.
Der Vater.
Kein großes Gespräch.
Aber ein Anfang.
Als sie gingen, sagte Jana:
„Darf ich dir schreiben?“
Er nickte.
„Und wenn du magst, bring den Jungen mit. Dann zeig ich euch nächstes Jahr die ersten Äpfel.“
Später nahm er den Füller und schrieb:
„Bastl,
*Sie war da. Jana. Die Kleine mit dem frechen Lachen. Heute war sie ernst.
Sie wollen mich fortbringen – in ein Heim. Aber das hier ist mein Zuhause. Unser Zuhause.
Ich hab Nein gesagt. Weil ich noch etwas zu tun habe. Vielleicht ist das verrückt. Aber vielleicht ist das Liebe.“*
Draußen tanzten die Blätter im Wind.
Und irgendwo in der Dunkelheit bellte ein Hund.
Ganz kurz.
Fast wie ein Gruß.