Die letzte Ernte | Ein Bauer begräbt seinen Hund – Jahre später essen Kinder von den Früchten der Treue.

🔹 Teil 6

Der erste Schnee fiel still, fast schüchtern.
Feine Flocken, die sich auf den Fensterscheiben sammelten und das Dach des Schuppens mit einem weißen Tuch bedeckten.

Karl-Heinz zog den alten Wollmantel über, ging hinaus, stapfte durch die Spur zum Apfelbaum.
Ein zartes Weiß legte sich über das Grab.

Der junge Baum stand aufrecht, als hätte er das Jahr verstanden.
Er war nicht mehr neu – aber auch noch nicht stark.

Wie Karl-Heinz selbst.

Er blieb lange dort stehen.
Die Hände in den Taschen.

Die Gedanken woanders.


Donnerstag kam.
Dann Freitag.
Kein Moritz.

Am Samstag ging Karl-Heinz zum Zaun, hielt Ausschau.
Nichts.
Nicht einmal Kinderstimmen aus dem Dorf.

Er setzte sich an den Tisch, holte Papier und schrieb:

„Bastl,

*Er ist nicht gekommen. Ich hab mir eingebildet, dass du ihn mir geschickt hast.
Vielleicht war das nur Wunschdenken. Vielleicht war er nie dafür bestimmt, zu bleiben.

Aber ich vermisse ihn. So wie ich dich vermisse.“*


Am Sonntag fuhr Karl-Heinz ins Dorf.
Mit dem klapprigen Fahrrad.

Langsam, vorsichtig.
Jeder Stein auf der Straße war wie ein kleines Hindernis.

Er fragte bei der Bäckerei, beim Briefträger, sogar im Gemeindehaus.

Niemand wusste etwas.
Niemand kannte den Nachnamen.

Nur: „Der Bub mit dem großen Rucksack? Der war mal bei Frau Lechner in der Pension. Kurzzeitig.“


Er fand die Adresse.
Ein altes Haus, halb Pension, halb Auffangstation für Gestrandete.

Frau Lechner war rundlich, neugierig und nicht leicht zu durchschauen.

„Moritz? Der ist weg. Die Mutter auch. Sind über Nacht einfach gegangen. Ohne sich abzumelden.“

Karl-Heinz fühlte, wie sich etwas in seiner Brust zusammenzog.
„Hat er etwas dagelassen?“

Sie winkte ab.
„Nur Müll.“

Er ging ohne ein weiteres Wort.
Doch als er den Hof verließ, hörte er sie hinterherrufen:

„Der Junge mochte Sie. Hat viel von dem Apfelbaum erzählt.“


Zuhause legte er Holz nach.
Der Ofen knackte.

Die Scheiben beschlugen.

Er saß auf der Bank, starrte hinaus.
Es schneite noch immer.

Er sprach laut:
„Bastl. Ich kann nicht noch mal jemanden verlieren. Nicht dieses Mal.“


Dann stand er auf.
Langsam.

Und begann, etwas zu tun, das er seit Jahren nicht mehr getan hatte:
Er schnitzte.

Aus einem alten Stück Kirschholz formte er ein Herz.
In das Holz ritzte er mit zitternder Hand:

„Für M.“

Er band es an den Baum.
Mit Bast, den er im Schuppen fand.

Der Wind spielte mit dem Anhänger, ließ ihn leise klopfen gegen die dünne Rinde.


Die Tage vergingen.
Karl-Heinz schrieb weiter.

Weniger an Bastl.
Mehr an Moritz.

Er bewahrte die Briefe auf.
In einer zweiten Dose.

Rot, mit Weihnachtsmuster.
Sie füllte sich schnell.


Dann, am Heiligabend, klopfte es.
Zögerlich.
Zweimal.

Als Karl-Heinz öffnete, stand niemand da.

Nur ein Brief lag auf der Türschwelle.
In Kinderschrift:

„Ich komme wieder. Ich schwöre.
– M.“


Er hielt den Zettel in der Hand wie etwas Lebendiges.
Etwas, das man nicht erklären konnte.

Etwas, das Hoffnung hieß.

Er trat hinaus.
Der Baum war weiß, das Holzherz schaukelte im Wind.

Und irgendwo im Schnee war eine einzelne, kleine Fußspur.

🔹 Teil 7

Der Zettel lag auf dem Tisch, sorgsam geglättet.
Karl-Heinz hatte ihn mehrmals gelesen.

Nicht, weil die Worte schwer zu verstehen waren.
Sondern weil sie ihn trafen wie ein warmer Sonnenstrahl inmitten des Winters.

„Ich komme wieder. Ich schwöre.
– M.“

Ein Versprechen.
Ein Wort, das kaum noch jemand benutzte.

Aber für Karl-Heinz war es wie ein stiller Händedruck – ehrlich, einfach, schwer wie ein Sack Saatgut.


Draußen knirschte der Schnee unter seinen Stiefeln.
Er ging zum Apfelbaum.

Schob etwas Eis vom Holzherz.
Darunter blieb das „M“ sichtbar.

Er strich mit dem Daumen darüber.
Und dann kamen sie – die Erinnerungen.

Nicht an Moritz.
Sondern an das erste Weihnachten mit Bastian.


Es war 2008 gewesen.
Ein harter Winter, ähnlich wie dieser.

Der Welpe hatte damals keine Angst vor der Kälte – sprang durch den Schnee, als hätte er nie etwas anderes gekannt.

Elfriede hatte ihm eine rote Schleife um den Hals gebunden.
„Damit er weiß, dass er dazugehört“, hatte sie gesagt.

Karl-Heinz erinnerte sich, wie der Hund unter dem Baum gelegen hatte, zwischen Geschenkpapier und Kinderschuhen.

Wie die Kinder gelacht hatten, als Bastian das letzte Plätzchen vom Teller stibitzte.
Wie Elfriede ihn nicht gescholten, sondern gelächelt hatte.


Jetzt war es still im Haus.
Keine Plätzchen.
Kein Baum.

Kein Lachen.
Nur das Knacken des Ofens und das ferne Ticken der Taschenuhr auf dem Fensterbrett.

Doch etwas war anders.
Nicht leer – sondern ruhig.

Nicht traurig – sondern wartend.


Karl-Heinz nahm Papier zur Hand.
Die Weihnachtsdose war fast voll.

Aber dieser Brief sollte anders werden.
Nicht an Bastian.

Nicht an Moritz.
Sondern… an sich selbst.

„Lieber Karl,

Du hast gedacht, das Leben sei vorbei, als Elfriede ging. Dann hast du geschwiegen, als die Kinder gingen.
Und du hast angefangen zu sterben, als der Hund ging.

Aber heute, an diesem Abend, sitzt du hier. Und wartest.
Weil ein kleiner Junge gesagt hat: Ich komme wieder. Und du glaubst ihm.

Vielleicht ist das nicht viel.
Vielleicht ist das alles.“


Er faltete den Brief.
Steckte ihn nicht in die Dose.

Sondern legte ihn auf das Fensterbrett.
Offen.

Wie eine Einladung ans Leben.


In dieser Nacht träumte er von einer Wiese.
Frisch, grün, voller Licht.

Moritz rannte mit einem Apfel in der Hand.
Bastian sprang neben ihm her.

Und Elfriede stand am Rand, winkte – mit einer roten Schleife in der Hand.


Am Morgen roch es nach Schnee und frischem Holz.
Der Himmel war klar.

Der Apfelbaum war weiß vom Frost.
Und das Herz schaukelte leicht im Wind.
Aber es hing noch da.


Karl-Heinz stand lange dort.
Die Finger kalt, das Herz warm.

Er wusste: Noch war niemand zurück.
Aber das Versprechen war geblieben.

Und das war genug.

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