Die letzte Ernte | Ein Bauer begräbt seinen Hund – Jahre später essen Kinder von den Früchten der Treue.

🔹 Teil 8

Der Februar kam mit grauen Tagen und nassen Schuhen.
Der Schnee war geschmolzen, hatte Pfützen hinterlassen, in denen sich der Himmel spiegelte wie in müden Augen.

Karl-Heinz fegte täglich den Weg zum Apfelbaum frei – nicht weil es nötig war, sondern weil es ihn brauchte.

Der Baum hatte den Winter überstanden.
Ein Wunder, so jung wie er war.

Karl-Heinz berührte die Rinde, suchte mit den Fingerspitzen nach Leben.
Und er fand es.
Ein Puls, kaum spürbar – aber da.


Eines Morgens, als der Tau noch in den Rillen der Holzbank glänzte, sah er es.
Etwas Kleines, Grünes neben dem Grab.

Kein Unkraut.
Kein Samen, den er selbst gesät hatte.
Ein einzelner Trieb, kräftig und gerade.

Er kniete sich nieder.
Schaute genau.

Es war ein Apfelkern, der gekeimt hatte.
Vielleicht vom letzten Herbst, vielleicht von einem der Äpfel, die Elfriede eingekocht hatte.

Oder… vielleicht hatte Moritz einen dagelassen.
Ein Kern.
Ein Zeichen.


Er ließ ihn stehen.
Gab ihm Raum.
Und erzählte es dem alten Baum.

„Du bist nicht mehr allein“, flüsterte er.
„Ihr seid jetzt zwei.“


Die Tage wurden heller.
Die Briefe wurden seltener.

Nicht weil er nichts mehr zu sagen hatte –
sondern weil das Leben wieder sprach.

Er kochte sich wieder Suppe.
Wärmte Brot auf.

Las ein altes Buch, das nach Stall roch und nach Erinnerung.

Und als der März begann, setzte er sich abends nicht mehr in die Ecke –
sondern ans Fenster.
Und wartete.


An einem Donnerstagnachmittag, als die Amseln wieder sangen, klopfte es leise.
Diesmal war da jemand.

Moritz.
Der Rucksack größer als zuvor.

Die Schuhe voller Matsch.
Aber dieselben Augen.

„Ich hab gesagt, ich komm wieder“, sagte er.

Karl-Heinz nickte.
„Ich hab’s geglaubt.“

Der Junge trat ein, als wäre er nie weg gewesen.
Setzte sich an denselben Platz.

Trank Kamillentee.
Sagte nicht viel.

Aber sah viel.
Zum Beispiel den kleinen neuen Trieb.


„Der war vorher nicht da“, sagte er.
Karl-Heinz nickte.

„Vielleicht hat jemand einen Kern verloren.“
„Oder jemand hat ihn heimlich gepflanzt“, flüsterte Moritz.

Sie lachten nicht.
Sie nickten nur.

Als wüssten beide: Manches wächst nicht aus Zufall.
Sondern aus Hoffnung.


Am Abend reichte Karl-Heinz dem Jungen ein altes Notizbuch.

„Du kannst auch schreiben. Wenn du magst.
Nicht an mich.
Einfach so.“

Moritz nahm es.
Strich über das Leder.
Als wäre es etwas Wertvolles.


Bevor er ging, blieb er noch einen Moment unter dem Apfelbaum stehen.
Berührte das Herz.

Legte zwei Finger auf die Rinde.
Dann ging er wortlos.
Aber diesmal: ohne sich umzudrehen.


Karl-Heinz sah ihm nach.
Und flüsterte:
„Du gehörst jetzt auch zu denen, die bleiben. Auch wenn sie gehen.“

🔹 Teil 9

Der Frühling war gekommen.
Nicht plötzlich, sondern leise.

Wie ein alter Freund, der nicht klopft, sondern einfach die Tür einen Spalt öffnet.

Die Knospen am Apfelbaum standen prall.
Karl-Heinz strich täglich darüber, prüfte, wie weit sie waren.

Der junge Trieb daneben war nun handhoch.
Zwei Bäume. Zwei Geschichten.

Beide verbunden mit etwas, das nicht mehr da war – und doch geblieben war.


Er saß auf der Bank, als der Wind vom Süden kam und der erste zarte Apfelduft durch den Hof zog.
Nicht stark.

Nur ein Hauch.
Aber genug, um ihn zurückzuversetzen.

In das Jahr 1963.
Als Elfriede ihm den ersten Apfel aus dem eigenen Garten reichte.
„Der schmeckt nach Zuhause“, hatte sie gesagt.


Später, beim Aufräumen in der Kammer, fand er die alte Blechdose.

Nicht die mit den Briefen an Bastl.
Nicht die mit den Zetteln an Moritz.

Eine dritte.
Blau, verbeult, mit einem Aufkleber: „Nur öffnen, wenn du dich traust.“

Er erinnerte sich vage.
Ein Streit mit seiner Tochter.

Ein Versuch, etwas zu sagen, das nie ausgesprochen wurde.
Ein Brief, den er geschrieben, aber nie abgeschickt hatte.


Er setzte sich.
Nahm ihn vorsichtig heraus.

Die Tinte war blass.
Das Papier weich geworden.

„Liebe Jana,

Ich weiß, ich habe oft geschwiegen, wo ich hätte reden sollen.
Ich habe dich nie gefragt, wie es dir geht, weil ich dachte, stark sein reicht.
Und als deine Mutter starb, war ich stumm, weil ich es nicht anders konnte.

Aber ich denke an dich. Jeden Tag.
Ich wollte nur, dass du weißt: Ich bin stolz auf dich. Auch wenn ich’s nie gesagt hab.

Papa.“


Er faltete den Brief neu.
Diesmal steckte er ihn in einen Umschlag.

Beschriftete ihn.
Setzte eine Briefmarke auf – alt, aber noch gültig.

Und am nächsten Morgen fuhr er zum Postkasten.

Der Umschlag rutschte leise in den Schlitz.
Wie ein Stein, der nach Jahrzehnten endlich zu Boden fiel.


Als er heimkam, saß Moritz schon auf der Bank.
Neben sich eine Plastiktüte mit einem Apfelbaum aus dem Baumarkt.

„Für den kleinen Trieb“, sagte er.
„Falls er’s nicht schafft.“

Karl-Heinz lächelte.
„Er wird’s schaffen. Aber vielleicht brauchen wir trotzdem noch Platz für mehr.“


Sie pflanzten ihn zusammen – am anderen Ende des Gartens.
Moritz gab ihm einen Namen: „Bastians Bruder“.

Karl-Heinz lachte.
„Der bekommt jetzt auch Briefe.“
„Dann schreib ich ihm“, sagte Moritz.

Und zog das alte Notizbuch aus dem Rucksack.
Darin: kindliche Schrift, Zeichnungen von Äpfeln, ein Hund mit Schlappohren.


Am Abend setzte sich Karl-Heinz noch einmal ans Fenster.
Sah zu den drei Bäumen hinaus.

Der alte.
Der junge.
Der neue.

Und er dachte:
Vielleicht war das nie meine letzte Ernte.
Vielleicht war’s die erste, die wirklich zählt.

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