Die letzte Ernte | Ein Bauer begräbt seinen Hund – Jahre später essen Kinder von den Früchten der Treue.

🔹 Teil 10

Die Jahre vergingen.
Nicht schnell.

Nicht laut.
Wie ein leiser Regen, der fällt, ohne dass man ihn bemerkt – bis plötzlich alles blüht.

Der Hof war nicht mehr derselbe.
Und doch war er es.
Die Fensterläden waren frisch gestrichen.

Die Bank vor dem Haus neu gezimmert.
Und in der alten Scheune hing eine Kinderschaukel aus einem alten Reifen.


Der Apfelbaum, den Karl-Heinz einst auf Bastians Grab gepflanzt hatte, war groß geworden.
Sein Schatten reichte weit.

Im Spätsommer hing er voller rotgrüner Früchte.
Saftig.
Duftend.
Süßer als jede Sorte aus dem Supermarkt.

Daneben stand der kleine Trieb von damals – längst ein richtiger Baum, wenn auch schlanker.

Und am anderen Ende des Gartens wuchs „Bastians Bruder“.
Moritz hatte ihn so getauft.
Der Name war geblieben.


Karl-Heinz selbst wurde leiser.
Langsamer.
Er ging nicht mehr jeden Tag hinaus.

Aber wenn er ging, dann mit der gleichen Ruhe wie früher.
Und nie ohne über die Rinde zu streichen.

Jeden Baum einmal.
Wie ein Vater, der jedes Kind abends berührt, bevor das Licht ausgeht.


An einem warmen Septembertag kamen Kinder.
Viele.

Ein Bus, organisiert vom Jugendzentrum.
Moritz – inzwischen 13 – hatte die Idee gehabt:
„Die sollen wissen, woher echte Äpfel kommen.“

Sie rannten über das Gras, lachten, sammelten in Körben, sprangen über Wurzeln.
Einer blieb stehen.
Ein Junge mit dunklen Haaren.

„Warum steht da ein Herz am Baum?“
Moritz antwortete, ohne zu zögern:
„Weil da jemand begraben liegt, der nie gegangen ist.“

Der Junge nickte.
„Wie mein Opa.“


Karl-Heinz beobachtete alles vom Fenster aus.
Auf seinem Schoß: ein altes, abgegriffenes Notizbuch.

Darin – Briefe.
An Bastian.
An Moritz.
An Jana.
Und an sich selbst.

Er schrieb nicht mehr oft.
Aber manchmal.

Und wenn er schrieb, dann langsam.
So wie man Apfelmus rührt: mit Geduld, mit Wärme, mit Erinnerung.


Eines Morgens blieb das Fenster geschlossen.
Das Radio stumm.
Die Teekanne kalt.

Moritz fand ihn im Sessel.
Die Hände gefaltet.
Ein Brief auf dem Tisch:

*„Wenn du das liest, bin ich wohl weg.
Aber keine Angst – ich bin bloß umgezogen.
Vielleicht dahin, wo Bastian wieder rennen kann.
Oder dorthin, wo Elfriede wartet.

Bitte: Pflückt die Äpfel. Gebt sie weiter.
Sagt den Kindern, sie stammen von einem Baum,
der aus Liebe gewachsen ist.“*


Am Herbstmarkt im Dorf standen zwei Körbe vor dem Stand:
„Bastians Äpfel – für alle, die einmal treu waren.“

Die Schilder malte Moritz selbst.
Daneben stand Jana, mit einem Glas selbstgekochtem Apfelgelee.

Und im Schatten der drei Bäume saß ein Junge mit seinem Notizbuch.
Er schrieb.

Nicht an die Vergangenheit.
Sondern an das, was bleiben sollte.

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