Die letzte Fahrt mit Emil | Er wartete jeden Morgen auf denselben Bahnsteig – bis ein Hund sein Leben veränderte

🐾 Teil 4: Die stille Krankheit

Die Tage vergingen langsam, wie alte Züge im Nebel.

Johann stand jeden Morgen um sechs Uhr auf, zog sich seine Wolljacke an, prüfte die Taschenuhr – auch wenn er keinen Zug mehr fuhr – und öffnete die Tür.

Emil lag meist schon da, halb wach, halb träumend.

Wenn Johann sich bückte, um ihm vorsichtig die Ohren zu kraulen, atmete der Hund tief durch.
So als wollte er sagen: Noch bin ich da.

Doch Johann sah es.
Die Pfoten zitterten manchmal.

Der Atem war flacher.
Und der Napf mit dem teuren Spezialfutter blieb öfter halbvoll.

Er versuchte es mit Leberwurst. Dann mit Hühnerbrühe.
Emil nahm es – aus Höflichkeit, nicht aus Hunger.

Am dritten Morgen in Folge, als Emil nicht aufstehen wollte, beschloss Johann, erneut zur Praxis zu gehen.

Dr. Clara Weidemann erkannte ihn sofort.
„Ich habe schon befürchtet, dass Sie wiederkommen.“

Sie hörte Emil ab, tastete ihn ab, sah in seine Augen.

„Er baut ab. Langsam, aber sicher. Die Medikamente helfen gegen die Schmerzen, aber nicht gegen die Zeit.“

Johann nickte nur.

„Haben Sie das Gefühl, dass er leidet?“, fragte er.

Clara überlegte kurz. Dann sagte sie:
„Noch nicht. Aber er wird es bald. Seine Nieren arbeiten kaum noch. Sie können zuhause Flüssigkeit geben, subkutan. Ich zeig Ihnen wie.“

Sie holte eine Tasche mit Nadeln, Beuteln, Desinfektion.

Johann sah die Utensilien an wie früher einen kaputten Schaltkasten:
Unübersichtlich. Beängstigend. Und doch notwendig.

„Was kostet das alles?“, fragte er nach einer Weile.

Clara lächelte müde.
„Mit allem drum und dran… etwa 200 Euro. Für ein paar Wochen Versorgung. Vielleicht etwas mehr.“

Johann schluckte.
Seine Rente reichte kaum für Miete, Strom und Essen.

Er hatte ein kleines Sparbuch, für den Notfall.
Aber ob ein alter Hund als „Notfall“ galt?

Zuhause legte er die Tasche vorsichtig auf den Küchentisch.

Neben ihr lag die Zeitung von gestern – ungelesen.
Darin: Werbung für Reisen, Hörgeräte, Pflegedienste.

Er blätterte durch.
Dann stieß er auf eine Anzeige:
„Haustier-Versicherung – für die treuesten Freunde im Leben.“

Er las, dass man Hunde gegen fast alles versichern konnte: OPs, Medikamente, sogar Physiotherapie.
Aber nur, wenn sie jünger als acht waren – und bei Abschluss gesund.

Er lachte leise.
„Zu spät, mein Freund.“

Emil hob den Kopf, als hätte er verstanden.
Dann senkte er ihn wieder.

Am Nachmittag ging Johann in den Keller.
Er holte drei Kisten herauf – die, die er seit Annas Tod nicht mehr geöffnet hatte.

Fotos. Bücher. Ein alter Plattenspieler.
Und eine Keksdose mit Münzen.

D-Mark und Euro, vermischt. Darunter ein kleines Goldkettchen – Annas erstes Geschenk.

Er setzte sich an den Küchentisch.
Legte das Kettchen in die Handfläche.
Sein Daumen strich über das Metall, als könne er sie noch einmal berühren.

„Ich werd dich nicht einfach gehen lassen, Emil“, flüsterte er.

Er begann, ein paar Dinge ins Internet zu stellen.
Die Modelleisenbahn. Eine alte Kamera. Eine Uhr aus den 50ern.

Nicht, weil er musste.
Sondern weil er wollte.
Weil dieser Hund ihm etwas gegeben hatte, das er fast verloren glaubte: Bedeutung.

Zehn Tage später war Emil wieder in der Praxis.
Dr. Weidemann lächelte, als sie ihn sah.

„Sieht nicht gut aus, aber… er ist tapfer.“

„Das ist er“, sagte Johann leise.

Die junge Tierarzthelferin, ein schmaler Rotschopf namens Mia, kniete sich vor Emil.
„Du bist ein guter Junge, nicht wahr?“

Emil leckte ihre Hand.
Zum ersten Mal seit Tagen.

Als Johann abends die Flüssigkeit unter die Haut gab, zitterten seine Hände.
Nicht vor Angst. Sondern vor Verantwortung.

Emil zuckte kurz, dann lag er still.
Die Nadel war drin.

Es war nicht schön, nicht heldenhaft.
Aber es war würdevoll.

Und als es vorbei war, blieb Emil ruhig neben ihm liegen.
Wie ein alter Freund, der wusste: Er tut, was er kann.

An einem dieser Abende saß Johann auf dem Balkon.
Es war kalt, aber klar.
Der Himmel voller Sterne.

Emil lag auf der Wolldecke, eingerollt wie ein Fuchs.
Ein Flackern ging durch seinen Körper – wie ein letzter Funke.

Johann nahm die Taschenuhr heraus.
Sie ging wie immer fünf Minuten vor.

„Weißt du…“, sagte er, „ich glaube, du warst der Letzte, der sie gesehen hat, als sie noch wirklich gelächelt hat.“

Der Hund hob den Kopf.

Und in diesem Moment wusste Johann:
Er musste sich vorbereiten.

Nicht auf das Ende.
Sondern auf das, was bleibt.


Wie wird Johann mit den steigenden Belastungen umgehen? Wird er Hilfe annehmen – oder sich selbst verlieren?

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