🐾 Teil 5: Die unbezahlten Rechnungen
Der Briefkasten quietschte, als Johann ihn öffnete.
Zwei Umschläge. Einer mit Fenster, einer handbeschriftet.
Er nahm beide mit hoch, ließ sie auf dem Küchentisch liegen und füllte frisches Wasser in Emils Napf.
Der Hund hob nur den Kopf. Trank nicht.
Er war erschöpft.
Sein Körper atmete schwer, aber gleichmäßig – wie ein altes Uhrwerk, das noch einmal aufzieht.
Johann setzte sich. Öffnete zuerst den weißen Umschlag mit Fenster.
Die Rechnung der Tierarztpraxis: 176,80 €
Dazu ein freundlicher Hinweis: “Bitte begleichen Sie innerhalb von 14 Tagen. Bei Fragen helfen wir gerne.”
Er atmete tief ein, dann schob den Zettel wortlos unter ein Notizbuch.
Er wusste, was drin stand.
Was er nicht wusste: wie.
Er öffnete den zweiten Umschlag. Handschrift.
Es war ein Brief seiner Enkelin, Lina. 14 Jahre, lebte mit ihrer Mutter in Hannover.
“Lieber Opa, wir haben in der Schule über Hunde geschrieben. Ich hab von Emil erzählt, auch wenn ich ihn noch nie gesehen hab. Mama sagt, du gehst jeden Morgen mit ihm zum Bahnhof. Das ist schön. Ich vermiss dich.”
Ein schwaches Lächeln glitt über Johanns Gesicht.
Dann kam ihm ein Gedanke.
Er stand auf, ging zum Schrank in der Abstellkammer.
Darin: zwei Kartons mit altem Geschirr, drei Bücherkisten – und eine kleine Holzkiste mit Metallverschluss.
Er öffnete sie.
Darin lagen drei Dinge:
- Annas goldene Brosche – Emaille, Handarbeit, 1958
- Eine Armbanduhr mit gravierter Rückseite: „Für J.B. – deine letzte pünktliche Fahrt“
- Ein Sparbuch – 317,22 €
Er seufzte.
Nicht vor Trauer. Sondern aus Reue.
Wie viel Zeit hatte er mit Stolz verschwendet?
Später ging er zum Wochenmarkt.
Verkaufte dort die Uhr an einen alten Sammler mit Brille und Hut.
Er bot 85 €, Johann nahm 70.
„Für einen Hund“, sagte Johann nur.
Der Mann nickte, als wüsste er genau, was das bedeutete.
Am Nachmittag versuchte er, online eine Anzeige zu erstellen:
„Modellbahn-Set Märklin, voll funktionsfähig, liebevoll gepflegt.“
Dazu ein paar Fotos.
Dann eine weitere Anzeige: „Plattenspieler Dual 1214 – Opa-Generation.“
Er war kein Profi. Aber er lernte schnell.
Denn wenn man für jemanden kämpft, der nicht sprechen kann, wird man erfinderisch.
Emil wurde schwächer.
Am Abend versuchte Johann, ihm etwas von Annas altem Rezept zu geben: weichgekochter Reis mit Hühnerherz.
Der Hund schnupperte, leckte zögerlich, ließ den Rest aber liegen.
Johann kraulte ihm die Brust, spürte das klopfende Herz darunter.
Nicht panisch. Nicht aufgeregt.
Nur müde.
Die Nächte wurden schwerer.
Zweimal wachte Johann auf, weil Emil fiepte.
Nicht laut – eher wie ein Kind, das im Traum nach seiner Mutter ruft.
Er setzte sich auf den Boden, legte eine Decke über beide.
„Ich bin hier, mein Freund. Ich geh nicht weg.“
Am Sonntagmorgen öffnete Johann das Küchenfenster.
Die Luft war klar. Vogelstimmen.
Er ließ Emil noch einmal an der Tür schnuppern.
Der Hund stand kurz – schwankte – blieb dann liegen.
Johann hob ihn hoch. Ganz vorsichtig.
Er war leichter als je zuvor.
Nur noch Knochen, Fell und Erinnerung.
Er trug ihn zum alten Kinderwagen, der seit Jahren auf dem Speicher stand.
Polsterte ihn mit Kissen. Legte Emil hinein.
Und so schob er ihn durch den Park.
Die Leute sahen ihn an. Manche nickten. Manche blieben stehen.
Einer rief: „Toller Hund! Wie alt ist er?“
Johann antwortete: „Alt genug, um mich besser zu kennen als ich selbst.“
Als sie zurückkamen, wartete ein Umschlag an der Tür.
Darauf stand: „Für Emil – von uns allen.“
Innen: ein Gutschein der Tierarztpraxis über 100 €, unterschrieben von Clara und Mia.
Eine kleine Karte lag dabei:
„Weil jeder Hund ein Zuhause verdient. Und jeder Mensch, der ihn liebt, verdient Hilfe.“
Johann setzte sich.
Er weinte nicht.
Aber er blieb sehr, sehr lange still.
Am Abend schrieb er an seine Enkelin zurück:
„Liebe Lina, du hattest recht. Emil ist ein guter Hund. Er spricht nicht. Aber er hat mir Dinge beigebracht, die ich nie aus Büchern gelernt hab. Vielleicht kommst du ihn bald besuchen. Ich glaube, er wartet auf dich.“
Johann legte sich später neben Emil auf den Teppichboden.
Die Zimmerlampe brannte schwach.
Im Hintergrund spielte eine alte Aufnahme von Brahms – leise, wie ein letzter Gruß.
Er legte die Hand auf Emils Flanke.
Spürte den Atem.
Noch da. Noch da.
Was passiert, wenn Emil eines Morgens nicht mehr aufstehen kann? Wird Johann um Hilfe bitten? Oder kommt Hilfe von außen – aus der Vergangenheit?