🐾 Teil 6: Die letzte Fahrt
Der Morgen roch nach feuchtem Laub und altem Metall.
Johann öffnete wie immer die Haustür.
Doch diesmal blieb er länger in der Tür stehen.
Emil lag auf der Decke im Flur. Er hatte die Augen geöffnet, aber sie glänzten dumpfer als sonst.
Er machte keine Anstalten, aufzustehen.
„Willst du nicht mit zum Bahnsteig?“
Seine Stimme war ruhig. Fast zu ruhig.
Emil bewegte nur ein Ohr.
Johann kniete sich zu ihm, streichelte ihn.
Der Körper des Hundes zitterte leicht, dann kam ein leiser Laut – kein Ja, kein Nein, nur jetzt nicht.
Er telefonierte mit Dr. Weidemann.
„Er ist schwach. Sehr schwach“, sagte Johann.
Die Ärztin atmete hörbar ins Telefon.
„Ich komme vorbei. Ich mache auch Hausbesuche, wissen Sie noch? Ich bringe alles mit.“
Zwei Stunden später stand sie in seiner Küche.
Kein Kittel, nur eine Strickjacke.
Sie legte sich neben Emil, redete mit ihm wie mit einem alten Freund.
„Du bist ein tapferer Junge“, flüsterte sie.
Dann drehte sie sich zu Johann.
„Er hat Schmerzen, aber er ist noch bei sich. Wenn Sie möchten, können wir ihm helfen – ohne Klinik. Hier. Mit Infusionen, ein wenig Schmerzmittel, leicht dosiert. Vielleicht schenkt es ihm noch ein paar gute Tage.“
Johann nickte.
„Solange er nicht leidet.“
Clara setzte den Tropf, sprach leise, langsam, wie jemand, der oft am Rand des Endes sitzt.
Johann beobachtete alles genau.
Wie sie die Haut spannte, desinfizierte, die Nadel setzte.
Er hatte früher Züge angehalten. Maschinen mit tausenden PS geführt.
Aber noch nie ein Leben so gehalten.
Am Nachmittag klingelte es.
Es war Herr Keller, ein ehemaliger Kollege.
Sie hatten sich jahrelang nicht gesehen.
„Ich hab gehört… von der Apothekerin. Dass dein Hund krank ist. Und du… na ja, allein.“
Er trat ein, brachte eine große Thermoskanne mit Hühnersuppe.
„Für dich. Und wenn Emil mag – auch für ihn.“
Sie setzten sich in die Küche, erzählten. Von früher. Von Bahnstrecken, die es nicht mehr gab. Von Kollegen, die in der Zeitung standen – oder gar nicht mehr.
Emil schlief derweil auf seiner Decke, ruhig atmend.
Am Abend schob Johann den Kinderwagen wieder aus dem Schuppen.
Er polsterte ihn neu, packte eine weiche Wolldecke hinein.
Dann hob er Emil ganz vorsichtig hoch – Knochen, Fell, ein schwacher Puls.
Legte ihn hinein, schob ihn durch das kleine Wohnviertel.
Ein paar Leute winkten.
Eine Frau brachte ein Kissen. Ein Kind legte ein altes Kuscheltier in den Wagen.
Johann war überrascht.
Nicht vom Mitgefühl – sondern von der Stille, mit der es kam.
Ohne große Worte. Nur echte Gesten.
Am nächsten Tag kam Mia, die Tierarzthelferin, auf dem Fahrrad vorbei.
Sie brachte neues Diätfutter, das der Hersteller gespendet hatte.
„Ist nicht viel“, sagte sie. „Aber vielleicht schmeckt’s besser.“
Sie streichelte Emil, sprach mit ihm.
Dann drückte Johann einen kleinen Zettel in die Hand.
„Mobiler Pflegedienst für Tiere – wenn der Abschied nicht klinisch sein soll.“
„Wir kommen. Wir bleiben. Wir helfen.“
Er faltete den Zettel, steckte ihn zu Annas Brief.
Am Freitagmorgen weckte ihn ein Geräusch.
Nicht laut. Nur ein leises Scharren.
Emil lag nicht mehr auf der Decke.
Er hatte sich bis zur Tür geschleppt.
Lag nun dort. Den Kopf erhoben. Blick nach draußen.
Johann verstand.
Er öffnete die Tür.
Und gemeinsam gingen sie – langsam – zum Bahnsteig.
Die Luft war kühl, klar. Kein Nebel.
Ein neuer Tag, so still, dass man das Knistern der Blätter hören konnte.
Johann setzte sich auf die Bank. Emil legte sich zu seinen Füßen.
Die Gleise lagen wie immer da. Leer. Wartend.
Ein junges Paar kam vorbei, lächelte.
Die Frau sagte: „Er sieht aus, als wäre er schon immer hier gewesen.“
Johann nickte.
„Das ist er auch. Nur manchmal sieht man es erst, wenn man gelernt hat zu warten.“
Der Hund döste.
Die Sonne stieg langsam über die Baumwipfel.
Und für einen Moment schien es, als wäre die Zeit stehen geblieben.
Johann beschließt, etwas zurückzugeben: eine letzte Fahrt für Emil – und für alle, die niemanden mehr haben. Wird das Dorf mitziehen?