🐾 Teil 7: Das ticketlose Abteil
Am nächsten Morgen saß Johann wieder mit Emil am Bahnsteig.
Die Sonne brannte nicht, aber sie wärmte.
Und das war genug.
Emil lag eingerollt zu seinen Füßen, eingehüllt in eine alte Wolldecke.
Er atmete ruhig, aber mühsam.
Sein Blick war fern, wie jemand, der auf etwas wartete, das nur er sieht.
Ein junger Mann mit Klemmbrett kam vorbei.
Er war vom städtischen Kulturamt, sammelte Ideen für „interaktive Seniorenangebote“.
„Haben Sie einen Vorschlag?“, fragte er höflich.
Johann antwortete ohne Zögern:
„Ja. Einen letzten Zug. Für die, die sich nicht mehr gesehen fühlen. Und für einen Hund, der nie vergessen hat zu warten.“
Der junge Mann runzelte die Stirn, schrieb aber mit.
Am selben Abend schrieb Johann einen Brief an den Bürgermeister.
Kurz, ehrlich, mit krakeliger Handschrift:
„Ich war Lokführer, 39 Jahre. Ich weiß, was ein Gleis wert ist – nicht nur für Züge. Auch für Erinnerungen. Ich wünsche mir eine letzte Sonderfahrt. Kostenlos. Für alte Leute. Für Kinder, die nie Bahn gefahren sind. Und für einen Hund, der mitfahren darf.“
Er schickte den Brief ab, ohne viel Hoffnung.
Aber auch ohne Angst.
Denn was sollte ihm noch passieren?
Drei Tage später klingelte das Telefon.
„Herr Brenner? Hier spricht Bürgermeister Schröder. Ich hab Ihren Brief gelesen. Und ich habe ihn dreimal gelesen.“
Pause.
„Ich finde, Ihre Idee ist verrückt. Aber gut.“
Noch eine Pause.
Dann: „Wir machen das.“
Innerhalb von einer Woche wurde der kleine Regionalzug reserviert.
Eine Ehrenfahrt. Ein Waggon, beheizt. Einer offen.
Ein Schild wurde gedruckt:
„Zug der Erinnerung – für alle, die gewartet haben.“
Am Bahnhof versammelten sich am Morgen der Fahrt über 40 Menschen.
Alte Damen mit Gehstöcken. Kinder mit Windjacken.
Eine Pflegerin mit einem Rollstuhlfahrer. Und dazwischen: neugierige Blicke – auf Emil.
Er lag in seinem Wagen, eingepackt in drei Decken.
Seine Augen offen, müde, aber klar.
Sein Blick ging nicht zum Gleis. Sondern zu Johann.
Ein junger Schaffner half beim Einsteigen.
Er trug ein Abzeichen mit der Aufschrift: „Ehrenfahrt – keine Kontrolle, nur Geschichten“
Johann hatte die erste Bank im Waggon reserviert.
Für sich. Und für Emil.
Er hatte Emil ein Schild umgehängt, handgeschrieben:
„Ehrengast – 1. Klasse, ohne Ticket“
Der Zug fuhr langsam los.
Wie in alten Zeiten, als Reisen noch ein Ereignis war.
Die Landschaft glitt vorbei. Wälder. Felder.
Kinder klebten an den Scheiben.
Alte Männer sahen raus, als suchten sie etwas Verlorenes.
Johann saß aufrecht, eine Hand auf Emils Rücken.
Er erzählte.
Von Strecken, die es nicht mehr gibt. Von Signalen.
Von Anna.
Und keiner unterbrach ihn.
In der Mitte der Fahrt wurden Kaffee und Tee serviert.
Ein Bäcker aus dem Ort hatte Kuchen gespendet.
Eine ältere Dame setzte sich zu Johann.
Sie hieß Gerda, trug eine grüne Brosche und lächelte schüchtern.
„Ich hatte auch mal einen Hund“, sagte sie.
„Er hieß Max. Ich hab ihn 1983 beerdigt. Und seitdem nie mehr Zug gefahren.“
Sie streichelte Emils Ohr.
„Er ist schön. So ruhig.“
Johann nickte.
„Er kennt das Ende. Aber er hat keine Angst.“
Als der Zug in eine Lichtung fuhr, stellte der Lokführer das Tempo herunter.
Der Zug tuckerte beinahe.
Die Sonne brach durch die Bäume, goldgelb.
Jemand summte „Über den Wolken“ ganz leise.
Emil hob kurz den Kopf.
Dann legte er ihn wieder auf Johanns Oberschenkel.
Auf dem Rückweg war es stiller.
Die Gespräche wurden weniger, die Blicke weicher.
Viele schliefen ein.
Aber nicht aus Langeweile. Sondern aus Vertrauen.
Als der Zug in den Bahnhof einfuhr, standen ein paar Kinder mit selbstgemalten Schildern am Gleis:
„Willkommen zurück, Emil!“
„Danke, Johann!“
Johann konnte nicht mehr sprechen.
Er stand auf. Nahm Emil vorsichtig in die Arme.
Der Hund war federleicht.
Aber in seinen Händen wog er wie Erinnerung.
Draußen warteten Mia und Dr. Weidemann.
Mit einer kleinen Decke und einer Thermoskanne Brühe.
„Wie war’s?“, fragte Clara.
Johann lächelte, Tränen in den Augen.
„Wie früher. Nur leiser. Und viel, viel wichtiger.“
Sie fuhren gemeinsam zurück nach Hause.
Johann, Emil und eine Stille, die nicht leer war.
Sondern erfüllt.
Emil wird schwächer. Johann muss sich fragen, ob der Moment gekommen ist. Und was man tut, wenn man nicht loslassen will – aber weiß, dass man muss.