🐾 Teil 9: Abschied am Bahnsteig
In der Nacht regnete es leise.
Es war kein harter Regen – eher ein Zittern der Welt.
Ein Tropfen nach dem anderen, als ob der Himmel leise mitatmen wollte.
Johann lag auf dem Boden, neben Emil.
Er hatte die Hand auf dem Brustkorb des Hundes.
Spürte, wie er sich hob – und wieder senkte.
Langsam. Immer langsamer.
Gegen drei Uhr wachte Johann auf.
Oder besser gesagt: er hatte gar nicht geschlafen.
Er blickte in Emils Gesicht.
Die Augen waren halb geöffnet. Aber blicklos.
Er beugte sich hinunter.
„Mein Junge…“
Emil atmete noch.
Aber es war kein Atem mehr.
Es war nur noch ein Echo.
Gegen vier Uhr klingelte es.
Clara stand draußen im Regen, eine kleine Tasche in der Hand.
Sie hatte auf das Zeichen gewartet.
Johann ließ sie schweigend herein.
Sie kniete sich zu Emil, streichelte ihn.
Dann blickte sie zu Johann.
„Es ist Zeit.“
Er nickte.
Keine Tränen.
Nur ein Nicken.
Sie bereitete alles vor.
Legte die Decke zurecht, nahm die erste Spritze, dann die zweite.
Sie sprach dabei leise, fast wie ein Gebet.
Johann saß neben Emil.
Hielt seine Pfote.
Und flüsterte: „Danke.“
Als es vorbei war, lag Emil da – ruhig, friedlich.
Kein Zucken. Kein Schmerz.
Nur Stille.
Clara legte eine Hand auf Johanns Schulter.
„Er wusste, dass Sie bei ihm sind. Das war alles, was er brauchte.“
Die Sonne ging auf, als Johann mit Emil auf dem Arm zum Bahnhof ging.
Nicht in einem Wagen. Nicht versteckt.
Sondern offen.
Er trug ihn wie einen alten Freund.
Ein letztes Mal.
Der Bahnsteig war leer.
Nur ein paar Vögel sangen in der Ferne.
Er setzte sich auf die Bank. Legte Emil neben sich.
Die Decke schützte ihn vor dem Tau.
Das Metallschild mit der Inschrift „Ehrengast“ lag auf seiner Brust.
Ein Mann in Uniform kam vorbei.
Der Schaffner der Ehrenfahrt.
Er blieb stehen, zog die Mütze.
„Ich habe von ihm gehört“, sagte er.
Dann stellte er sich still daneben.
Ohne Worte. Nur anwesend.
Nach einer Weile kamen weitere Menschen.
Gerda, die Dame mit der grünen Brosche.
Der Bäcker. Mia. Sogar der Bürgermeister, in Gummistiefeln.
Sie stellten sich um Johann und Emil.
Einige brachten Blumen.
Einer legte ein kleines Holzherz auf die Decke. Darauf stand:
„Für Emil. Für die Treue.“
Johann erhob sich.
Sprach mit brüchiger Stimme:
„Er hat gewartet. Tag für Tag.
Er hat nichts verlangt.
Nur, dass ich da bin.
Und ich war da. Bis zum letzten Moment.“
Er setzte sich wieder.
Streichelt das graue Fell.
Die Sonne wärmte langsam das Holz der Bank.
Die Beerdigung war still.
Kein Pfarrer. Kein Chor.
Nur ein kleiner Fleck Erde hinter dem Bahnhofszaun, unter einer alten Birke.
Dort legten sie ihn hin.
Mit der Decke, dem Schild, dem kleinen Brief, den Johann geschrieben hatte.
Clara hatte einen Stein mitgebracht.
Darauf eingraviert:
„Emil – Der Hund, der wartete.“
Am Abend saß Johann allein am Küchentisch.
Die Leere war groß.
Aber sie war nicht kalt.
Er nahm das Sparbuch.
Und legte es zur Seite.
Dann holte er Annas Brief hervor.
Zum ersten Mal seit Tagen las er ihn zu Ende.
„Wenn du diesen Brief liest, dann hast du mir verziehen. Und vielleicht hast du auch gelernt, wieder zu lieben. Lass Emil nicht allein gehen. Und lass dich selbst nicht zurück. Geh raus. Warte nicht nur. Lebe wieder.“
Er faltete den Brief.
Sah zur Tür.
Und wusste: Morgen würde er wieder zum Bahnsteig gehen.
Nicht, um zu warten.
Sondern, um zu erzählen.
Ein Jahr ist vergangen. Johann sitzt wieder auf der Bank. Und dann – ganz unerwartet – kommt jemand auf ihn zu. Mit einer feuchten Nase. Und einer Geschichte, die erst beginnt.