Die letzte Fahrt mit Emil | Er wartete jeden Morgen auf denselben Bahnsteig – bis ein Hund sein Leben veränderte

🐾 Teil 10: Der letzte Geschichtenerzähler

Ein Jahr war vergangen.

Die Birke hinter dem Bahnhof hatte neue Blätter.
Der Stein unter ihr war nun von Moos bedeckt.

Aber die Inschrift war noch lesbar:
„Emil – Der Hund, der wartete.“

Johann kam immer noch jeden Morgen.
Sechs Uhr, wie früher.

Die alte Schirmmütze, die graue Jacke, der Schritt etwas langsamer.
Die Taschenuhr tickte noch – fünf Minuten vor.

Er saß auf der Bank.
Manchmal allein.

Manchmal mit einer Thermoskanne, manchmal mit einem Kind, das neugierig fragte:
„Warum stehen Sie immer hier, Opa?“

Dann lächelte Johann.
Und begann zu erzählen.

Von einem Hund, der wartete.
Von einem Brief, der zu spät kam – aber gerade noch rechtzeitig.
Von einer Zugfahrt ohne Ticket, aber mit Herz.

Der Bahnhof war nicht mehr leer.
Menschen kamen öfter vorbei.

Ein kleines Holzschild war angebracht worden:
„Erzählbank – hier darf erinnert werden.“

Manchmal setzte sich jemand dazu.
Ein alter Mann. Eine Mutter mit Kind.
Eine Frau mit traurigen Augen.

Und Johann erzählte.
Nie dasselbe.
Aber immer ehrlich.

Eines Morgens, genau ein Jahr nach Emils Tod, saß Johann wie immer auf seiner Bank.

Die Sonne schien durch das leichte Frühjahrsgrün.
Ein Kind lachte irgendwo.
Ein Zug ratterte in der Ferne.

Dann hörte er ein Geräusch.
Nicht laut. Nur ein leichtes Schnüffeln.

Er drehte sich um.
Ein Hund stand da.

Jung. Schwarz mit weißen Pfoten.
Ohren zu groß für den Kopf.

Ein bisschen zu dünn.
Ein bisschen zu verloren.

Der Hund starrte ihn an.
Wie Emil. Aber nicht Emil.

Johann sagte nichts.
Bewegte sich nicht.

Der Hund trat näher.
Schnupperte an seinem Schuh.
Setzte sich dann einfach hin.
Still.

Ein Mädchen kam gerannt, vielleicht acht Jahre alt.
„Oh nein! Ist er wieder weggelaufen? Entschuldigung, mein Herr! Das ist Rudi. Er hört nie.“

Johann lächelte.
„Rudi, ja?“

„Ja. Aus dem Tierheim. Ich hab ihn erst seit einer Woche. Aber er läuft immer weg.“

„Er läuft nicht weg“, sagte Johann leise.
„Er sucht.“

Das Mädchen sah ihn fragend an.

„Wonach?“

Johann strich Rudi übers Fell.
„Nach Geschichten.“

Sie setzten sich zu dritt auf die Bank.
Rudi lag zu Füßen.
Das Mädchen – sie hieß Mara – hörte zu.

Johann erzählte von Emil.
Von Anna.
Von alten Zügen, die nie zu spät kamen, weil jemand rechtzeitig geliebt hatte.

Mara sagte nichts.
Aber sie weinte ein wenig.

„Darf ich morgen wiederkommen?“, fragte sie.

„Natürlich“, sagte Johann.
„Aber nur, wenn Rudi auch zuhört.“

Von da an kamen sie jeden Samstag.
Rudi wurde größer, Mara auch.

Die Geschichten blieben.
Und wurden mehr.

Im Dorf sprach man bald vom „alten Bahnmann und seinem Ersatzhund“.
Johann widersprach nie.
Aber wenn er allein war, flüsterte er:

„Du bist kein Ersatz. Du bist der Beweis, dass es weitergeht.“

An einem kalten Dezembermorgen fand man auf der Bank einen Zettel.
Darauf stand, in krakeliger Schrift:

„Wenn ihr das lest, bin ich vielleicht nicht mehr hier.
Aber Emil ist hier. Und Anna.
Und ihr auch.
Erzählt weiter.“

Darunter lag die Taschenuhr.
Sie ging fünf Minuten vor.
Wie immer.

Die Bank steht noch.
Das Schild wurde ergänzt:

„Erzählbank – in Erinnerung an Johann Brenner (1951–2023)
Und an Emil – den Hund, der wartete.“

Und manchmal – ganz selten – sieht man einen schwarzen Hund mit weißen Pfoten dort sitzen.
Still.
Als würde er warten.
Oder zuhören.


🟦 ENDE


💬 Nachklang:
Die Geschichte endet in Stille – aber nicht in Leere.
Sie feiert Erinnerung, Treue, Weitergabe.
Und sie zeigt, dass ein Tier manchmal mehr bewirken kann als viele Worte.

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