Die letzte Schaufel

Bruno war noch warm, als ich ihn fand.

Ich hatte den Schuppen nur betreten, um die Sense zu holen. Stattdessen lag er da, zusammengerollt auf dem alten Getreidesack. Die Augen halb offen, wie immer, wenn er wachsam tat – nur dass diesmal kein Atem mehr kam. Keine Regung im borstigen Brustkorb, kein Zittern im Bein, wenn ich seinen Namen sagte.

Ich hockte mich neben ihn. Es war still. So still, dass ich das Ticken meiner eigenen Armbanduhr hörte.

Ich hätte heulen können. Hab’s nicht getan. Hab ich nie, nicht mal bei Paulas Beerdigung. Aber mein Rücken tat weh, als ich mich wieder aufrichtete – dieses Ziehen, das mit jedem Jahr tiefer sitzt und einem sagt: Du wirst nicht jünger, Friedrich.

Bruno war mein sechster Hund. Mein sechstes Grab.

Ich holte die Schaufel.


Der Boden war gefroren, wie ein alter Mann, der nichts mehr hergeben will. Ich brauchte drei Anläufe, bis ich tief genug kam. Meine Hände, rot vor Kälte, zitterten beim Halten des Holzgriffs. Ich hatte früher stärkere Finger. Fingernägel voller Erde, Hornhaut so dick wie Leder. Jetzt bin ich froh, wenn ich den Kaffeebecher nicht verschütte.

Als ich fertig war, legte ich Bruno hinein. Kein Tuch, kein Sarg. Nur die alte Wolldecke mit den grün-gelben Streifen – die mochte er.

Ich stand lange da, die Schaufel noch in der Hand, das Herz schwer wie eine nasse Jacke.


Früher… Ja, früher war das anders.

Als mein erster Hund starb – Rex hieß er, ein drahtiger Dackelmischling – da hatte ich noch Haare auf dem Kopf und ein kleines Radio in der Küche, das den ganzen Tag Scheunenmusik spielte. Paula lebte noch. Der Hof war laut – Traktor, Hühner, Kinderlachen. Mein Sohn, Jens, war noch klein. Ich hab ihm erklärt, dass Rex jetzt im Hundehimmel ist. Damals hab ich’s fast selbst geglaubt.

Jetzt? Ich weiß nicht mehr, was ich glauben soll.

Jens wohnt in München. Er ruft an, wenn’s sein muss. Weihnachten, Geburtstag, vielleicht. Ich tu ihm nicht weh damit – ich weiß, er hat sein Leben. Große Firma, teure Wohnung. Nur kein Platz für einen alten Mann, der immer noch seine Milchkanne selbst leert und kein WhatsApp hat.


Bruno war anders. Still, aber nicht dumm. Er kannte den Rhythmus meines Tages besser als ich selbst. Stand auf, wenn ich aufstand. Lag an der Scheune, wenn ich mähte. Schaute mir zu, wenn ich den alten Zündapp reparierte, der längst mehr Öl als Benzin säuft.

Ich hab ihm nie befohlen, zu bleiben. Er blieb von selbst.

Jeder meiner Hunde hat mich durch einen Abschnitt getragen. Rex durch die Anfangsjahre. Balu durch die Dürrezeit. Frida war da, als Paula krank wurde. Max, als sie ging. Dann kam Bello, dann Bruno.

Jeder Abschied hat ein Stück von mir mitgenommen.


Ich schob die Schaufel in die Erde zurück. Es raschelte wie Papier. Gefrorene Blätter. Ich drückte sie fest, trat die Erde an, so gut ich konnte.

Dann saß ich einfach nur da. Neben dem frischen Grab. Auf dem umgefallenen Eimer, den Bruno immer als Witterungspunkt missbrauchte.

Ich weiß nicht, wie lange ich da saß.

Irgendwann ging ich zum Haus zurück. Auf dem Weg dorthin sah ich die Hundehütte. Sie stand da wie ein leerer Stuhl nach dem Tod eines Gastes. Ich hatte sie selbst gebaut, damals aus alten Obstkisten. Das Dach war schief, aber Bruno mochte sie.

Daneben stand sein Napf. Ich hab ihn nicht aufgehoben. Irgendwas in mir wollte, dass er da bleibt.

Vielleicht als Zeichen. Vielleicht als Trost.


Abends saß ich am Küchentisch, vor mir ein Brot mit Leberwurst, das ich nicht angerührt habe.

Es war still im Haus. Kein Kratzen an der Tür. Kein Schnarchen auf dem Läufer. Nur ich und das Ticken der Wanduhr.

Ich überlegte. Noch ein Hund? Ein siebter?

Ich bin 79. Ich zähl keine Jahre mehr, ich zähl Winter. Und dieser hier beißt. Jeder Gang zum Stall wird länger, jede Nacht einsamer.

Was, wenn ich vor dem Hund gehe? Wer kümmert sich dann? Soll ich ihn wieder allein lassen? Oder mich?

Vielleicht ist das jetzt genug. Vielleicht war Bruno mein letzter. Die letzte Schaufel. Die letzte Schnauze, die sich an mein Knie lehnt.

Ich dachte an früher. An die Nachbarn, die man kannte. Die Traktoren mit dem Lärm und dem Dieselgestank. Die Ernte, bei der zehn Hände mit anpackten. Jetzt? Alles Maschinen. Alles digital. Kein Schwätzchen mehr am Zaun. Nur noch Klicks und Kühlketten.

Der Bauer von heute trägt einen Anzug im Büro und bestellt Futter per App. Ich bin aus der Zeit gefallen – und ich weiß es.


Draußen zog Nebel über die Felder. Die Straße war leer, wie mein Hof.

Ich trat auf die Veranda, den Mantel halb offen, den Kragen hochgeschlagen.

Und dann hörte ich es.

Ein leises Winseln.

Ich hielt inne.

Noch einmal. Kurz, kehlig, zögernd.

Ich trat einen Schritt vor. Sah über das Gartentor hinweg zum Feldweg. Nichts. Nur der Wind, der das alte Weizenstroh durch die Luft trug.

Ich wollte gerade zurück ins Haus gehen.

Da bewegte sich etwas.

Ein Schatten.

Am Rand der Böschung. Unter dem alten Apfelbaum, der diesen Winter kaum noch trägt.

Er stand still. Und starrte mich an.

Zwei Augen. Hell. Wach.
Ein schmutziges Fell.
Zittern.
Zögern.
Noch ein Schritt.

Ich wusste nicht, ob ich weinen oder lachen sollte. Mein Herz klopfte, wie früher, wenn ich mit Paula unter dem Blechdach saß und der Regen so laut war, dass man nichts mehr hörte außer sich selbst.

Ich atmete tief durch.

„Na, du?“ flüsterte ich.

Der Schatten blieb. Noch.

Dann kam der nächste Schritt.

Scroll to Top