Eines Morgens, als ich die Stalltür aufzog, kam ein Windstoß, der mir den Atem nahm. Ich hörte ein lautes, tiefes Bellen.
Rudi. Er stand zwischen mir und der alten Holzleiter, die plötzlich zu kippen begann. Ich riss die Augen auf, sprang zur Seite – und die Leiter krachte genau da nieder, wo ich eben noch gestanden hatte.
Rudi bellte weiter, dann kam er zögerlich näher, schnüffelte an meinem Stiefel.
Ich legte meine Hand auf seinen Kopf.
„Du alter Teufel“, murmelte ich. „Du hast’s gehört, was ich nicht gehört hab.“
Er wedelte. Zum ersten Mal.
Jens rief an. Aus heiterem Himmel. Sagte, er hätte gehört, dass ich jetzt wieder einen Hund hätte. Die Tierärztin hätte’s ihm erzählt, über eine Bekannte.
Ich wusste nicht, ob ich lachen oder seufzen sollte.
„Ist das jetzt wieder so ein Welpe?“, fragte er.
„Nein“, sagte ich. „So wie ich. Alt, abgerissen, aber nicht ganz kaputt.“
Er schwieg. Dann sagte er leise: „Ich komm vielleicht zu Ostern mal vorbei.“
Vielleicht. Ein großes Wort.
Rudi und ich fuhren im Sommer das erste Mal wieder raus – zum alten Wiesenrand, wo ich als Junge Pflaumen geklaut hab. Ich fuhr den Traktor, Rudi lag auf der Ladefläche, die Zunge aus dem Maul, die Ohren im Wind.
Ich fühlte mich 20 Jahre jünger.
Ein Kind winkte am Straßenrand. Rudi bellte. Ich hob die Hand. Ein kurzer Moment – aber er war da.
Und ich spürte: Ich bin noch da.
Ich weiß nicht, wie lange ich noch hab. Vielleicht einen Winter, vielleicht zwei. Vielleicht geh ich schneller als ich denke.
Aber ich weiß eines:
Ich werde nicht mehr allein gehen.
Nicht, weil mich jemand pflegt oder ein Heim auf mich wartet.
Sondern weil Rudi mir gezeigt hat, dass Leben nicht aufhört, nur weil man grau wird.
Dass Liebe sich nicht nach dem Kalender richtet.
Und dass man auch mit 79 noch einmal ein Herz öffnen kann.
Manche Leute sagen, ein Hund ist „nur ein Tier“.
Dann haben sie nie nachts am Kamin gesessen, wenn draußen der Frost an den Fenstern knirscht, und gespürt, wie ein warmes Fell sich an den Knöchel schmiegt.
Dann haben sie nie erlebt, wie ein Blick aus zwei treuen Augen sagt: „Ich sehe dich. Auch wenn niemand sonst dich sieht.“
Rudi hat mir nichts beigebracht.
Aber er hat mich daran erinnert, wer ich war. Und dass ich noch wer bin.
Neulich hab ich wieder die Schaufel in der Hand gehabt.
Nicht, um ein Grab zu schaufeln.
Sondern weil ich den alten Zaun repariert hab. Der, den ich jahrelang ignoriert hatte.
Rudi saß daneben. Sah mir zu, als wär’s das Wichtigste auf der Welt.
Vielleicht war’s das auch.
Ich bin kein kluger Mann. Kein Dichter, kein Politiker.
Ich bin nur ein Bauer.
Aber wenn mich heute jemand fragt, warum ich’s noch mal gemacht hab – warum ich nach sechs Hunden einen siebten genommen hab, obwohl die Nächte länger und die Wege härter werden –
dann sag ich:
Weil ich sonst vergessen hätte, wie es sich anfühlt, gebraucht zu werden.
Und weil ein leerer Napf schlimmer ist als ein gebrochenes Herz.