Die letzten Monate mit meiner Oma und die stille Kraft, die uns verbindet

In den ersten Tagen nach Omas Beerdigung war meine Wohnung still auf eine Weise, die nicht mehr nach Erholung klang, sondern nach Echo.

Jede Ecke erinnerte mich an sie.

Das Glas auf dem Nachttisch, die Decke im Sessel, der Teller, den ich reflexhaft für zwei Personen hinstellte, bevor ich merkte, dass es nur noch mich gab.

Ich ging wieder regelmäßig ins Büro.

Kein Schleppen von Rollator, keine Windeln, keine nächtlichen Notrufe.

„Gut, dass du wieder öfter da bist, Jannik“, sagte mein Teamleiter und klopfte mir auf die Schulter, als hätte ich eine lange Fortbildung hinter mir und keine Sterbebegleitung.

Tagsüber funktionierte ich.

Ich löste Tickets, erklärte Kolleginnen geduldig zum hundertsten Mal, warum ein Neustart oft wirklich hilft.

Ich lachte an der Kaffeemaschine, wenn jemand über nervige Updates schimpfte.

Aber abends, wenn ich die Wohnungstür aufschloss, traf mich die Stille wie eine unsichtbare Wand.

Kein „Bist du das, Jannik?“, kein leises Rascheln aus dem Wohnzimmer.

Nur das Summen des Kühlschranks und das entfernte Quietschen einer S-Bahn.

Ich fing an, später zu arbeiten, Überstunden mitzunehmen wie andere Leute Sonderangebote.

Je müder ich war, desto weniger Platz blieb für Erinnerungen.

Dachte ich.

Eines Abends wischte ich gedankenlos durch alte Chatverläufe.

Plötzlich blieb ich an der Nachbarschaftsgruppe hängen, in die ich damals geschrieben hatte.

Der Thread war lang geworden, viel länger, als ich in Erinnerung hatte.

„Wie geht es Ihrer Oma?“ stand da irgendwo.

„Wenn Sie mal eine Pause brauchen, melden Sie sich.“

„Wir haben auch meine Mutter gepflegt, Sie sind nicht allein.“

Ich scrolle weiter.

Jemand hatte ein Foto von einer Topfpflanze geschickt, die vor meine Tür gestellt worden war.

Ich erinnerte mich an den Tag.

Oma hatte die Pflanze gestreichelt, als wäre sie ein Tier.

„Schreib denen doch mal wieder“, hätte Oma gesagt. „Man muss Beziehungen gießen wie Blumen.“

Stattdessen schloss ich die App.

Alle hatten ihr Leben, dachte ich.

Meine Oma war weg, und ich wollte niemanden mit meinem Nachtrauern belasten.

Ein paar Wochen später, an einem verregneten Sonntag im November, lag der Zettel wieder vor mir.

„Vergiss nicht, auch dich zu fragen: ‚Bist du heute müde, Jannik?‘“

Ich starrte den Satz an, bis die Buchstaben leicht verschwammen.

Zum ersten Mal merkte ich, wie absurd es war, dass ich jeden Tag prüfte, ob Server liefen, aber nie, ob ich selbst noch „online“ war.

Ich öffnete die Nachbarschaftsgruppe.

Meine Finger zögerten, dann schrieb ich:

„Kurzes Update: Meine Oma ist vor einigen Wochen verstorben. Danke für Ihre Unterstützung damals. Gibt es hier noch andere, die Angehörige gepflegt haben oder pflegen? Ich merke, dass mir der Austausch fehlt.“

Ich erwartete wieder Schweigen.

Stattdessen vibrierte das Handy.

„Mein Mann ist pflegebedürftig, schreiben Sie mir gern privat.“

„Ich habe meinen Vater bis zum Schluss zu Hause gehabt.“

„Vielleicht sollten wir uns mal auf einen Kaffee treffen?“

Ein paar Tage später saß ich im Hinterraum eines kleinen Cafés, an einem wackeligen Tisch, zwischen Menschen, die ich noch nie gesehen hatte und die trotzdem mehr von meinem Leben verstanden als viele Kolleginnen.

Eine Frau Mitte vierzig erzählte von ihrem Schlaganfall-Vater, ein älterer Mann von seiner Frau mit Demenz.

„Ich dachte immer, ich bin der Einzige, der so müde ist“, sagte ich.

Die Frau schüttelte den Kopf.

„Müde sind wir alle“, meinte sie. „Wir haben nur gelernt, das nicht laut zu sagen.“

Auf dem Heimweg überlegte ich, was Oma dazu gesagt hätte.

Vermutlich etwas wie: „Siehst du, Jannik, früher hatte jedes Dorf seine Bank vor dem Haus, wo man so etwas besprochen hat. Ihr habt jetzt Online-Gruppen. Ist auch eine Bank, nur ohne Sonne.“

Mit der Zeit änderte sich mein Blick.

Ich sah nicht mehr nur alte Menschen, wenn ich durch die Stadt ging, sondern Geschichten, die niemand fragte.

Auf dem Weg zur S-Bahn saß eine Frau mit Einkaufswagen vor dem Supermarkt, die ich vorher nie bewusst wahrgenommen hatte.

Ihr Mantel war sauber, aber abgetragen.

Eines Abends nahm ich all meinen Mut zusammen, stellte meine Tasche kurz ab und fragte:

„War Ihr Tag heute schwer?“

Sie sah mich an, als hätte ich ihr eine sehr intime Frage gestellt.

Dann zuckte sie mit den Schultern.

„Geht so“, murmelte sie. „Aber es ist schön, wenn es jemanden interessiert.“

Wir redeten nur ein paar Minuten.

Über die Preise im Supermarkt, über ihre Hüfte, die weh tat, wenn sie die Treppen hoch musste.

Als ich ging, lächelte sie.

Nicht viel, nur ein bisschen.

„Danke, junger Mann“, sagte sie. „Dass Sie sich hingesetzt haben. Sonst laufen alle nur vorbei.“

Zu Hause setzte ich mich an meinen Laptop, statt Serien anzumachen.

Impulse aus meinem IT-Hirn und aus dem, was Oma mir beigebracht hatte, begannen, sich zu vermischen.

Wenn man ein System entlasten will, verteilt man die Last auf mehrere Server.

Wenn man einen Menschen entlasten will, braucht es mehr Schultern.

Ich schrieb einen längeren Beitrag in der Nachbarschaftsgruppe:

„Ich habe meine Oma neun Monate bei mir gepflegt. Es war wunderschön und brutal anstrengend zugleich. Ich frage mich, ob wir hier im Haus, im Kiez, etwas aufbauen können: eine kleine Unterstützungsrunde für pflegende Angehörige und ältere Nachbarn. Kein großes Projekt, einfach ein paar Menschen, die sich gegenseitig fragen: ‚Schaffst du das noch?‘ und vielleicht mal einkaufen, kochen, zuhören. Wer hätte Interesse?“

Ich klickte auf „Senden“ und bekam Herzrasen, als hätte ich ein peinliches Geständnis gemacht.

Doch die Reaktionen ließen nicht lange auf sich warten.

„Ich bin dabei.“

„Ich habe wenig Zeit, aber ich kann Kuchen backen.“

„Ich bin selbst alt, aber ganz gut zu Fuß. Ich höre gern zu.“

Ein paar Wochen später standen wir zu fünft in meinem Wohnzimmer.

Das Pflegebett war weg, stattdessen stand dort jetzt ein schlichter Tisch mit einer Kerze.

Omas Sessel hatte ich behalten.

Niemand setzte sich hinein, als wäre das ein Platz, den man erst verdient haben musste.

Wir sprachen über Krankenkassenformulare, über Schuldgefühle, über Wut, die man nicht haben darf.

Ich erzählte von der Nacht, in der ich acht Stunden durchgeschlafen hatte, während Oma im Krankenhaus lag.

„Und ich habe mich dafür geschämt, dass sich das gut anfühlte“, sagte ich.

Der ältere Mann hob die Augenbrauen.

„Ich habe mich geschämt, als ich das erste Mal nach dem Tod meiner Frau wieder laut Musik angemacht habe“, sagte er. „Bis mir jemand gesagt hat, dass das Leben nicht weniger wertvoll ist, nur weil jemand fehlt.“

Als alle gegangen waren, blieb ich allein im Wohnzimmer zurück.

Das Kerzenlicht flackerte.

Ich setzte mich in Omas Sessel, zum ersten Mal seit ihrem Tod.

„Na, Jannik“, hörte ich ihre Stimme in meinem Kopf, „jetzt frag dich mal: Bist du heute müde?“

Ich war müde.

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