Die Nachricht an eine verlorene Nummer, die mein Leben und meine Trauer veränderte

Als der Brief vom Handyanbieter kam, hatte ich im ersten Moment das Gefühl, jemand wolle mir meinen Sohn ein drittes Mal wegnehmen.

Ein weißer Umschlag, sachlich bedruckt, der in meinem Briefkasten zwischen Reklame und kostenlosen Zeitungen klemmte und doch zitterten meine Hände, als hätte jemand „Wichtige Nachricht zu Luca“ daraufgeschrieben.

Ich sitze am Küchentisch, der Brief liegt vor mir, ungeöffnet.

Die Heizung gluckert, draußen fährt eine Bahn vorbei, so wie an jenem Morgen, als zum ersten Mal eine Antwort von Luca’ Nummer kam. Seitdem ist Zeit vergangen, ohne dass ich gemerkt habe, wie die Monate sich übereinanderschoben wie alte Zeitungsstapel.

Seit jenem Treffen im Café habe ich Jonas regelmäßig gesehen.

Mal nur kurz auf einen Kaffee, mal spazieren wir eine halbe Stunde am Fluss entlang, bevor es zu kalt wird.

Es ist keine große Geschichte, keine dramatische Wendung, eher ein leises Gewöhnen daran, dass da plötzlich wieder ein Mensch ist, der meinen Namen kennt und nach meinem Tag fragt.

„Mach auf“, flüstere ich zu mir selbst, starre auf den Umschlag und merke, wie lächerlich das klingen muss: Eine alte Frau, die Angst vor einem Standardbrief hat.

Ich reiße ihn auf.

„Sehr geehrte Kundin, sehr geehrter Kunde,

wir möchten Sie informieren, dass die Ihnen zugewiesene Rufnummer in den kommenden Wochen geändert wird…“

Der Rest verschwimmt.

Ich weiß nur: Die Nummer, die einmal Luca gehört hat und jetzt Jonas, soll verschwinden.

Eine neue Zahlenfolge, irgendeine andere.

Etwas in mir zieht sich so heftig zusammen, dass mir schwindlig wird.

Am Nachmittag treffe ich Jonas im Café.

Er kommt etwas zu spät, atmet noch schnell und setzt sich mit einer Entschuldigung auf die Bank.

„Der Zug hatte Verspätung“, sagt er, zieht den Schal aus. „Alles gut bei Ihnen? Sie sehen… blass aus.“

Ich schiebe ihm wortlos den Brief hin.

Er liest, die Stirn legt sich in Falten.

„Ach“, sagt er leise. „Das habe ich auch bekommen. Ich wollte es Ihnen eigentlich später erzählen. Ich dachte… vielleicht kommt es bei Ihnen gar nicht an.“

„Natürlich kommt es an“, sage ich schärfer, als ich vorhatte. „Diese Nummer war Luca. Dann waren Sie es. Und jetzt soll sie einfach… verschwinden, als wäre sie nie da gewesen.“

Jonas nickt langsam.

Seine Finger spielen mit der Zuckertüte, als wüssten sie nicht, wohin.

„Es ist nur eine Nummer“, sagt er schließlich. „Aber für uns ist sie nicht nur eine Nummer. Das verstehe ich.“

In meinem Kopf taucht Lucas letztes „Ich bin gleich da, Mama“ auf.

Wie oft habe ich es auf dem alten Display gelesen, bevor ich den Vertrag kündigte. Wie oft habe ich später auf die neuen blauen Häkchen gestarrt, als würden sie mir Beweise liefern, dass Erinnerung noch irgendwie Verbindung ist.

„Wenn die Nummer weg ist“, flüstere ich, „habe ich dann weniger Sohn?“

Jonas sieht mich an, ernst, fast erschrocken.

„Nein“, sagt er. „Sie verlieren eine Gewohnheit. Aber nicht Luca.“

Wir schweigen eine Weile.

Das Klappern von Tassen, das Husten am Nachbartisch, leise Musik aus einem Lautsprecher – alles klingt plötzlich weit weg, als wäre ich unter Wasser.

„Aber ich verstehe, dass es sich so anfühlt“, fügt Jonas hinzu. „Als meine Mutter starb, konnte ich Monate lang ihre Kaffeemaschine nicht anfassen. Die billige, alte. Irgendwann ist sie kaputtgegangen. Ich dachte, ich sterbe mit, als ich sie in den Müll geworfen habe. Und wissen Sie was? Ich denke heute noch an sie. Man verliert Menschen nicht, weil Dinge verschwinden.“

„Vielleicht bräuchte ich etwas Neues“, sage ich zögernd. „Etwas, das nicht nur aus Verlust besteht.“

Jonas lehnt sich vor.

„Wir könnten…“ Er stockt, als traue er sich kaum, den Gedanken auszusprechen. „Wir könnten eine andere Art von Ritual anfangen. Etwas, das nicht an einer Nummer hängt.“

„Zum Beispiel?“ frage ich misstrauisch.

„Sie schreiben Ihrem Sohn jeden Morgen um 7.12 Uhr“, sagt er. „Was wäre, wenn Sie stattdessen etwas tun, was er gemocht hätte? Ein Lied hören, das er geliebt hat. Oder einem Menschen schreiben, der noch da ist. Mir. Oder jemandem aus Ihrem Seniorenkreis. Oder… Sie schreiben es auf Papier und legen es in eine Schublade. Damit es trotzdem gesagt ist.“

Ich merke, wie Widerstand in mir aufsteigt.

Etwas trotzig Kindliches: Das ist nicht dasselbe. Gar nicht dasselbe.

„Ich will ihn nicht loslassen“, sage ich.

Jonas schüttelt den Kopf.

„Ich glaube nicht, dass es um Loslassen geht“, antwortet er. „Eher darum, dass er neben etwas anderem stehen darf. Neben einem heutigen Tag, nicht nur einem gestrigen.“

In den folgenden Wochen spült der Alltag uns in neue Rituale.

Der Seniorenkreis im Gemeindehaus wird plötzlich weniger zu einem Pflichttermin, bei dem man Kuchen isst und Wetter bespricht, und mehr zu einer Runde von Menschen, die lernen, einander das Unsagbare in vorsichtigen Sätzen hinzulegen.

Eine ältere Dame mit rotem Lippenstift erzählt von ihrem Bruder, der seit fünfzig Jahren tot ist, aber immer noch mit am Weihnachtsbaum steht – als Foto.

Ein Mann, der kaum spricht, bringt eines Tages die alte Armbanduhr seiner Frau mit und legt sie einfach in die Mitte des Tisches. Wir sagen nichts, aber alle verstehen.

Ich beginne, kleine Zettel zu schreiben.

Nicht mehr ans Handy, sondern in ein blaues Notizbuch, das Jonas mir geschenkt hat.

„Für Luca“, hat er auf die erste Seite geschrieben. „Und für alles, was noch kommt.“

Manchmal schreibe ich dieselben Sätze wie früher: „Hast du gefrühstückt, Luca?“

Manchmal erzähle ich ihm von Jonas. Dass er einen neuen Job in Aussicht hat, vielleicht in einer anderen Stadt. Dass er Angst hat, sich zu freuen, weil er glaubt, Glück sei irgendwie Verrat an der Trauer.

Eines Tages, es ist ein grauer Vormittag mit feinem Nieselregen, sagt Jonas am Fluss:

„Wenn ich die Stelle bekomme, muss ich umziehen. Und dann… wird die Nummer wahrscheinlich sowieso geändert. Oder ich nehme eine neue. Weil es sich anfühlt, als würde zu viel in diesem kleinen Ding stecken.“

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