🩺 Teil 7
Der Frühling kam langsam nach Franken.
Zögerlich, fast schüchtern.
Erst waren es nur ein paar Schneeglöckchen am Wegrand, dann das Zwitschern eines Vogels im Morgengrauen, schließlich die ersten grünen Spitzen an den Obstbäumen.
Und mit jedem Tag, an dem das Licht länger blieb, wurde auch Margaretes Herz ein wenig heller.
Emil wuchs.
Er war kein schöner Hund im klassischen Sinn – ein Ohr stand immer schief, und sein linkes Hinterbein war leicht verkürzt – aber er war wachsam, treu, und hatte einen kindlichen Eifer, der Margarete oft zum Lachen brachte.
Lukas war inzwischen ihr ständiger Wochenendbesucher.
Sie bastelten gemeinsam Vogelhäuser, backten Karottenkuchen und gruben ein kleines Beet im Garten um. Dort pflanzten sie Ringelblumen – „für Paul“, wie Lukas sagte.
Eines Tages saß Margarete mit Emil auf der alten Holzbank.
Die Sonne schien durch die kahlen Äste, die Luft war frisch.
Plötzlich fragte sie:
„Weißt du eigentlich, was mein letzter richtiger Dienst war?“
Emil sah sie an, als würde er zuhören.
„Es war in einem Flüchtlingslager. In Griechenland. 2016.
Ein kleines Mädchen hatte hohes Fieber. Niemand wusste, warum.
Ich hab mich einfach zu ihr gesetzt. Ihre Hand gehalten. Stunde um Stunde.“
Sie streichelte Emil über den Rücken.
„Sie ist nicht gestorben. Und ich glaube nicht, dass es an den Medikamenten lag.
Ich glaube, sie hat gespürt, dass jemand da war.“
Ein Windstoß ließ trockene Blätter über den Weg tanzen.
„So war es auch mit Paul.
Er war einfach… da.
Und das hat gereicht, um mich wieder zurück ins Leben zu holen.“
Wenige Tage später kam ein Brief.
Der Absender: Deutsches Rotes Kreuz – Bezirksverband.
Margarete wunderte sich. Sie öffnete das Kuvert langsam, mit leicht zitternden Fingern.
Sehr geehrte Frau Hoffmann,
im Rahmen unseres Ehrenamtsprogramms für ehemalige Pflegekräfte sind wir auf Ihre langjährige Arbeit aufmerksam geworden. Eine Ihrer ehemaligen Kolleginnen hat Sie für eine Auszeichnung vorgeschlagen – für Ihren lebenslangen Einsatz in Krisengebieten, Altenpflege, Kinderstationen und zuletzt in der Nachbarschaftshilfe.
Wir laden Sie herzlich zur feierlichen Übergabe der Ehrenmedaille in Nürnberg ein.
Margarete hielt inne.
Ihr Herz klopfte schneller – nicht vor Stolz, sondern vor Demut.
Sie hatte nie nach Anerkennung gesucht.
Aber diese Zeilen fühlten sich an wie ein Händedruck aus der Vergangenheit.
Sie faltete den Brief, legte ihn auf den Küchentisch – neben das Bild von Lukas und die kleine Holzfigur mit dem Kreuz.
Dann schaute sie zu Emil.
„Na, was meinst du? Fahren wir nach Nürnberg?“
Er bellte leise.
Und wedelte mit dem Schwanz.
Am Tag der Ehrung trug sie ihre alte, dunkelblaue Strickjacke – die mit dem aufgenähten Rot-Kreuz-Emblem auf der Brusttasche.
Nicht als Uniform, sondern als Zeichen.
Paul’s Holzknochen hing um ihren Hals. Emil blieb bei einer Freundin in der Nachbarschaft – zu viele Menschen, zu viel Trubel.
Die Veranstaltung war feierlich, doch schlicht. Keine langen Reden, keine Kameras.
Nur Menschen, die Leben gerettet hatten. Und Leben verändert hatten.
Als Margarete aufgerufen wurde, klatschten alle.
Sie trat langsam nach vorn, nahm die kleine Medaille entgegen.
Sie glänzte silbern.
Wie das Kreuz, das sie früher getragen hatte.
Wie das Fell von Paul im Mondlicht.
Der Vorsitzende reichte ihr die Hand.
„Danke, Schwester Hoffmann. Für Ihr Lebenswerk.“
Sie nickte nur.
Ein Wort hätte diesen Moment entwertet.
Am Abend saß sie mit Emil wieder auf der Bank.
Sie hatte die Medaille nicht abgelegt.
Sie glitzerte in der Abendsonne.
„Du weißt ja, dass ich das alles nicht für Auszeichnungen gemacht habe, nicht wahr?“, sagte sie.
Emil stupste ihre Hand mit der Schnauze an.
Dann legte er sich zu ihren Füßen, ganz still.
Margarete blickte zum Himmel.
Ein paar Vögel zogen ihre Bahnen.
Und ganz kurz – nur ein Wimpernschlag lang – hatte sie das Gefühl, dass Paul neben ihr stand.
Nicht als Geist.
Sondern als Erinnerung, die atmet.