🩺 Teil 9
Der Mai war sanft in diesem Jahr.
Die Tage wuchsen leise in die Länge, als wollten sie Margarete Zeit schenken.
Zeit zum Gehen. Zeit zum Bleiben. Zeit zum Erinnern.
Sie saß oft im Garten, den Blick auf das Blumenbeet gerichtet, das Lukas angelegt hatte.
Die Ringelblumen blühten nun, kräftig und orange, als trügen sie die Sonne in sich.
Daneben wuchsen neue Triebe – aus einem vergessenen Samenkorn, vielleicht vom Vorjahr, vielleicht von Paul selbst.
Emil tollte im Gras, jagte Schmetterlingen hinterher, blieb dann wie angewurzelt stehen, als er eine Hummel sah – voller Staunen, als sei es ein Wunder, dass etwas so Kleines so laut sein konnte.
Margarete lachte.
Es war kein großes, lautes Lachen.
Aber es war echt. Und das war genug.
Eines Morgens kam ein Brief.
Kein offizieller. Kein gedruckter.
Handschrift. Schräg, unsicher.
Liebe Schwester Margarete,
Ich weiß nicht, ob Sie sich noch an mich erinnern. Ich war 2005 in Ihrer Station – der Junge mit dem Beinbruch nach dem Fahrradunfall.
Sie haben mir damals gesagt, dass Angst nicht schlecht ist – nur ein Zeichen dafür, dass einem etwas wichtig ist.
Ich hab diesen Satz nie vergessen. Heute arbeite ich als Pfleger. Ich wollte Ihnen einfach schreiben: Danke. Für alles.Ihr ehemaliger Patient,
Jan-Ole S.
Sie legte den Brief auf den Tisch.
Dann stand sie auf, ging zum Spiegel und betrachtete sich lange.
Die Falten. Das graue Haar. Die müden, aber hellen Augen.
Sie war nicht mehr die Frau von damals.
Aber sie war immer noch sie.
Im Juni veranstaltete das Rote Kreuz ein kleines Dorffest.
Margarete wurde gebeten, einen Stand zu betreuen – „Erinnerungen teilen“.
Ein Tisch, ein paar Stühle, ein offenes Ohr.
Sie legte alte Bilder aus, ihre erste Namensplakette, sogar ein paar vergilbte Patientenbriefe.
Lukas half ihr, die Tafel zu bemalen:
„Früher war ich Schwester. Heute bin ich Zuhörerin.“
Leute kamen.
Setzten sich.
Erzählten.
Von Kriegszeiten. Von Geburten. Von Abschieden. Von kleinen Wundern.
Und Margarete hörte.
Und lächelte.
Und nickte.
„Du hast nicht nur verbunden“, sagte eine Frau in den Siebzigern, „du hast auch verwoben. Leben. Erinnerungen. Trost.“
Am Abend saß Margarete wieder auf der Bank im Garten, Emil zu ihren Füßen.
Der Himmel war rosa.
So ein Rosa, wie man es nur an wenigen Tagen im Jahr sieht – zart, fast zerbrechlich.
Sie erinnerte sich an Paul.
Wie er einmal dort gestanden hatte, im Mondlicht.
Wie er ihr das Gefühl gegeben hatte, dass ihre Zeit nicht vorbei war.
Und sie erinnerte sich an etwas, das sie nie jemandem erzählt hatte:
Dass sie früher – heimlich – Angst vor dem Tod gehabt hatte.
Nicht vor dem Schmerz.
Sondern davor, nichts hinterlassen zu haben.
Aber jetzt…
Jetzt war da Lukas.
Jetzt war da Emil.
Jetzt war da ein Beet voller Ringelblumen, Briefe von früher, und ein zartrosa Himmel über ihrem Kopf.
Und sie wusste:
Es war genug.
Sie schrieb ein letztes Mal in ihr Notizbuch – dieselbe Seite, die sie all die Monate begleitet hatte:
Ich habe keine Kinder geboren.
Aber ich habe Leben berührt.
Ich habe keine Kirche gebaut.
Aber ich habe Seelen getröstet.Und ein Hund – einer, der verletzt kam und heil weiterging – hat mir gezeigt:
Auch gebrochene Herzen können wieder schlagen.