🩺 Teil 10
Der Sommer kam in vollen Zügen.
Die Obstbäume standen in Blüte, Bienen summten durch die warme Luft, und Emil jagte voller Freude seinem eigenen Schatten hinterher.
Margarete saß oft auf der Bank am Gartenzaun, dieselbe, auf der sie Paul zum ersten Mal im Traum wiedergesehen hatte.
Sie war nun achtundsiebzig.
Die Schritte wurden langsamer. Die Knie steifer.
Doch in ihrem Inneren war etwas heller, weiter, ruhiger als je zuvor.
Eines Morgens, während der Tee noch auf dem Tisch dampfte, bekam sie Besuch von der Frau aus dem Seniorenbüro.
„Wir haben gehört, dass Sie etwas über das Pflegen erzählen können“, sagte sie.
„Nicht das Medizinische – das Menschliche.“
Margarete lächelte.
„Ich kann Geschichten erzählen. Vielleicht hilft das ja jemandem.“
Und so begann etwas Neues.
Einmal im Monat sprach sie vor kleinen Gruppen – manchmal nur fünf Zuhörer, manchmal zwanzig.
Sie erzählte nicht von Heldentaten.
Sondern von stillen Momenten. Von Händen, die nicht loslassen wollten. Von Augen, die im Sterben heller wurden. Von einem Hund, der heilte, ohne Worte zu brauchen.
Sie nannte ihre Erzählrunde:
„Was bleibt.“
Und das war es auch, was die Leute mitnahmen – etwas, das blieb.
Keine Fakten. Keine Diagnosen.
Nur das Gefühl, dass jedes Leben zählt.
Auch dann, wenn es leise endet.
Im Spätsommer wurde Emil krank.
Zunächst war es nur ein Husten. Dann das Fieber. Dann die Diagnose: eine Infektion, schwer zu behandeln.
Der Tierarzt war freundlich.
„Wir versuchen es mit allem, was wir haben. Aber Sie sollten sich innerlich auf beides vorbereiten.“
Margarete nickte still.
Sie war vorbereitet.
Nicht, weil sie stark war.
Sondern, weil sie gelernt hatte, dass Liebe auch heißt, gehen zu lassen.
Sie schlief neben Emil, auf einer Matratze im Wohnzimmer.
Er atmete schwer.
Doch jedes Mal, wenn sie seine Pfote berührte, wurde er ruhiger.
In einer dieser Nächte, während der Regen sanft gegen die Fenster trommelte, sprach sie leise:
„Wenn du gehen willst, Emil… dann geh.
Ich werde weinen, ja.
Aber ich werde nicht zerbrechen.
Weil ich dich hatte.“
Am nächsten Morgen war er noch da.
Und er blieb.
Er wurde langsam wieder gesund.
Nicht weil die Medizin so stark war.
Sondern vielleicht, weil er spürte:
Da war noch etwas, das ihn hielt.
Im Herbst bekam Margarete Post vom Roten Kreuz – eine kleine Ehrenbroschüre. Ihr Porträt war darin abgedruckt, neben einer Zeile, die sie selbst gesagt hatte:
„Man heilt nicht immer mit Medikamenten.
Manchmal reicht es, da zu sein.“
Sie hielt das Heft in der Hand.
Dann legte sie es in die Schublade.
Nicht aus Bescheidenheit.
Sondern weil sie wusste:
Was sie wirklich heilte, war nicht auf Papier zu bringen.
Und dann kam ein Tag wie viele andere.
Emil lag im Gras. Lukas las ihr einen Text aus der Schule vor.
Die Sonne ging langsam unter, warm und golden.
Margarete lehnte sich zurück, schloss die Augen.
Und sah sie alle noch einmal:
– das Kind mit dem Fieber
– den Soldaten ohne Beine
– die Mutter mit dem Seidentuch
– Paul auf der Fußmatte
– und Emil, wie er das Tuch zurückbrachte
Sie öffnete die Augen.
Schaute in den Himmel.
Und flüsterte:
„Ich war Schwester.
Ich war allein.
Und dann kamt ihr.“
Lukas nahm ihre Hand.
Er sagte nichts.
Er musste auch nicht.
Und in diesem Moment – ganz leise – wusste Margarete:
Sie hatte geliebt.
Sie hatte geheilt.
Und sie hatte Frieden gefunden.
🕊️ Ende der Geschichte – „Die Schwester vom roten Kreuz“
Ein stiller Dank an alle, die mit offenen Herzen leben.