🐾 Teil 4: Der Kreis im Raum
Der Gruppenraum in der Praxis von Frau Ahrens war warm und lichtdurchflutet. Der Teppich war blau, mit kleinen bunten Sternen bestickt, und an den Wänden hingen Kinderzeichnungen. In der Mitte lag Faro. Seine Schiene war ab, nur noch ein leichtes Humpeln erinnerte an die Verletzung.
Vier Kinder saßen im Kreis. Jonas, die Beine angezogen, das Notizbuch auf dem Schoß. Neben ihm Jule, die zwar nicht zur Gruppe gehörte, aber heute mitkommen durfte. Sie hatte eine Thermoskanne dabei und verteilte Tee in kleinen, bunten Bechern.
„Heute möchte ich, dass jeder eine Geschichte erzählt“, sagte Frau Ahrens. Ihre Stimme war ruhig, ohne Druck. „Nur ein paar Sätze. Wer will, fängt an.“
Das Mädchen mit dem Pony, Anna, begann. Sie sprach leise, aber ohne Angst. Über einen Vogel, der den Weg nach Hause nicht mehr fand. Dann kam Tom, der mit den Händen gestikulierte, wenn die Wörter hängen blieben. Seine Geschichte handelte von einem Baum, der nicht wachsen konnte, weil ihm niemand zuhören wollte.
Jonas hörte zu. Die Hände fest um sein Notizbuch. Faro hob den Kopf, als wäre er ganz bei ihm.
„Jonas?“, fragte Frau Ahrens. „Magst du auch? Nur wenn du willst.“
Er öffnete das Buch. Dort war die Zeichnung, die er am Abend zuvor gemacht hatte. Faro, unter einem Baum. Der Baum hatte ein Gesicht.
Jonas räusperte sich. Die Worte im Kopf waren klar, aber schwer. Er sah Faro an, dann Jule, dann die anderen.
„D-d-dieser B-b-baum…“
Er stoppte. Der erste Satz war immer der schwerste.
„D-d-dieser Baum… redet n-nicht. A-aber e-er hört… w-w-was niemand sagt.“
Die Kinder schwiegen. Dann nickte Anna. „Wie Faro.“
Jonas nickte auch. Und plötzlich war es leicht, weiterzureden. Nicht flüssig, nicht ohne Stolpern, aber mit Mut.
„U-und… der Hund… w-wartet. I-immer. E-er g-g-geht n-nicht weg.“
Frau Ahrens lächelte. „Das war sehr stark, Jonas.“
Er senkte den Blick. Doch in seinem Inneren klopfte etwas. Kein Herzrasen, keine Angst. Es war… Stolz.
Nach der Stunde gingen sie zu dritt nach draußen. Jule pustete ihren Atem in die kalte Luft.
„Du warst richtig gut“, sagte sie.
Jonas zuckte mit den Schultern. „W-w-war n-nicht viel.“
„Doch“, sagte sie. „Weißt du, wie lange ich gebraucht hab, um vor der Klasse ein Gedicht zu sagen? Zwei Jahre. Und ich hab nur geheult.“
Jonas lachte. Es war ein leises, raues Lachen. Aber echt.
Faro trottete nebenher, schnupperte an einem Laubhaufen. Seine Bewegungen waren noch langsam, aber sicher. Als ein Auto vorbeifuhr, blieb er stehen. Jonas auch.
„W-was ist?“, fragte Jule.
„E-er hat… Angst v-vor Autos.“
Sie nickte. „Vielleicht erinnert es ihn an früher. An das, was er erlebt hat.“
„W-w-was denkst du, was p-passiert ist?“
Jule überlegte. „Vielleicht war er bei einem Unfall. Oder jemand hat ihn zurückgelassen.“
Jonas sagte nichts. Aber sein Blick wurde dunkel. Die Vorstellung, dass jemand Faro verletzt haben könnte, tat ihm weh. Fast körperlich.
Zu Hause lag Faro wieder auf der Wolldecke. Jonas saß davor, zeichnete. Diesmal war es kein Baum, sondern eine Straße. Leer. Und am Rand: ein kleiner Junge und ein Hund.
„Das war ich“, flüsterte er.
Seine Mutter kam herein, sah das Bild. „Wirklich schön“, sagte sie. „Aber auch traurig.“
„W-weil… w-weil ich a-allein war.“
Sie setzte sich neben ihn. „Und jetzt?“
Jonas überlegte.
„J-jetzt… hab ich F-faro. U-und… m-manchmal… mich.“
Ein paar Tage später stand ein besonderer Termin an: „Vorlesestunde“ in der Stadtbibliothek. Frau Ahrens hatte die Gruppe angemeldet. Jedes Kind sollte ein paar Sätze aus einem Buch vorlesen. Nur wer wollte. Kein Zwang.
Jonas wollte nicht. Zuerst.
Aber dann sagte Jule: „Ich geh auch. Ich les was über Füchse.“
Und Jonas erinnerte sich, wie Faro auf ihn vertraut hatte. Im Wald. Mit der Falle. Und wie er selbst geredet hatte, obwohl alles in ihm geschrien hatte, es nicht zu tun.
Am Abend vor dem Termin saß er auf dem Bett. Faro lag zu seinen Füßen. Jonas flüsterte den Text. Immer wieder. Jedes Wort. Jedes Stolpern.
Faro blinzelte müde. Aber er hörte zu. Und das reichte.
Die Bibliothek war still. Nur das Umblättern von Seiten und ein paar leise Stimmen. Jonas saß auf einem kleinen Stuhl, das Buch in der Hand. Es war ein Kinderbuch über einen Hund, der sich verirrt hatte und den Weg nach Hause fand.
Jule hatte vorgelesen. Anna auch. Jetzt war Jonas dran.
Er stand auf. Die Knie zitterten.
Ein Junge im Publikum grinste.
Jonas atmete tief ein. Dann las er.
„D-d-der Hund… s-s-suchte… s-seinen W-w-weg.“
Ein paar Köpfe drehten sich. Aber niemand lachte.
„E-er… v-v-verirrte sich… a-a-aber… h-hörte die Stimme.“
Er stoppte. Schluckte.
Dann sagte er leise: „W-wie Faro.“
Frau Ahrens lächelte. Und Jonas las weiter.
Später, auf dem Heimweg, fragte seine Mutter: „Wie fühlst du dich?“
Jonas überlegte.
„A-als h-hätte ich… m-m-mich gehört.“
Sie nickte. „Und ich dich auch.“
Und in seinem Notizbuch schrieb Jonas später nur einen Satz:
„Die Wörter tun weh, aber sie gehen nicht weg und ich auch nicht.“