Die Stimme für Faro | Ein stotternder Junge. Ein verletzter Hund. Und ein Wort, das alles veränderte

🐾 Teil 5: Als der Himmel zu groß wurde

Der Wind hatte gedreht. Es war einer dieser Tage, an denen der Himmel zu groß wirkt, als würde er jeden Moment auf die Dächer fallen. Jonas spürte es schon beim Aufwachen, etwas war anders. Faro lag nicht wie sonst vor seinem Bett. Auch nicht im Flur. Die Haustür war zu. Das Körbchen leer.

Jonas rief leise. Einmal. Dann zweimal. „F-f-faro?“
Keine Antwort.

Stefanie stand in der Küche. Der Kaffee dampfte, der Radio lief leise.

„Hast du Faro rausgelassen?“

Sie sah ihn an. Schüttelte den Kopf.

Jonas’ Magen zog sich zusammen. Er zog sich an, ohne Frühstück. Die Jacke kratzte an seinem Hals. Draußen war es kalt. Der erste Frost lag silbern auf den Wiesen.

Er suchte zuerst im Garten. Dann auf dem Feldweg. Er kannte die Wege, die Faro mochte. Den alten Baum mit der Bank. Den Pfad hinter dem Bach. Nichts.

Er ging bis zur Lichtentaler Allee, dort, wo der Fluss rauscht und Enten zwischen den Steinen hocken. Zwei ältere Damen mit Pudelmützen führten Hunde aus. Jonas zeigte ihnen Faros Bild im Notizbuch. Fragte mit zitternder Stimme.

„H-h-haben Sie ihn g-g-gesehen?“

Sie schüttelten den Kopf. Eine von ihnen streichelte ihm über den Arm. „Wir sagen Bescheid, ja?“

Jonas nickte. Das Gesicht brannte.


Zurück zu Hause wartete Jule schon vor der Tür. Sie hatte auf die Nachricht reagiert, die Jonas ihr geschickt hatte – ein einziges Wort: „Weg.“

„Wann hast du ihn zuletzt gesehen?“

„G-g-gestern Abend. H-h-hat g-g-gefressen. Dann… s-s-schlief.“

Sie überlegte. „Er hat vielleicht Angst. Oder was gerochen. Tiere vergessen solche Dinge nicht.“

Jonas sagte nichts. Aber tief in ihm rumorte etwas. War es seine Schuld? Hatte er ihn nicht genug beobachtet? Hatte Faro Schmerzen, die er übersehen hatte?

„Komm“, sagte Jule. „Wir suchen ihn. Zusammen.“


Sie liefen durch den Wald. Riefen. Nicht laut, sondern auf die Art, wie man einen alten Freund ruft, der sich versteckt, weil er verletzt ist.

„Faro!“
„Faro, wir sind hier!“

Jonas rief nicht. Er versuchte es. Aber kein Laut kam. Der Hals war blockiert. Die Angst saß zu tief.

Sie kamen am alten Schuppen vorbei. Dort, wo Faro in der Falle gelegen hatte. Jetzt war er leer. Spinnweben. Feuchter Boden. Nichts.

„Vielleicht ist er zurück zur Tierstation“, flüsterte Jule. „Manche Tiere gehen dorthin, wo sie denken, sie gehören hin.“

Jonas wusste nicht, ob er hoffen sollte oder fürchten. Die Tierstation lag weit draußen, hinter den Hügeln. Und Faro humpelte noch manchmal leicht.


Am Abend saßen sie wieder im Wohnzimmer. Still. Stefanie hatte die Polizei informiert, einen Aushang im Supermarkt gemacht. Niemand hatte etwas gesehen.

Jonas saß mit dem Notizbuch auf dem Schoß. Leer. Kein Bild. Kein Wort.

Er dachte an die Bibliothek. An die Vorlesestunde. An den Moment, als er die Stimme gefunden hatte. Und jetzt war sie wieder weg. So wie Faro.

Er konnte nicht schlafen. In der Nacht stand er auf. Barfuß. Trat vors Haus. Der Himmel war klar. Die Sterne funkelten. Aber es war zu still.

Dann hörte er es. Ganz leise. Ein Bellen. Weit entfernt. Dreimal. Langgezogen.

Jonas rannte zurück ins Haus. Warf sich Jacke und Schuhe über, packte die Taschenlampe. Stefanie rief ihm nach, aber er lief schon.


Der Wald war schwarz. Nur der Lichtkegel vor ihm zeigte den Weg. Jonas kannte ihn auswendig. Er war ihn mit Faro hundertmal gegangen.

Dann, hinter dem Moosstein, sah er etwas. Ein Schatten. Bewegung. Zwei Augen im Dunkeln.

„F-f-faro?“, keuchte er.

Ein leises Winseln. Dann trat Faro aus dem Schatten. Zitternd, das Fell voll Dreck. Aber lebendig.

Jonas kniete sich hin. Der Hund legte den Kopf an seine Brust. Sie blieben so lange. Ohne Worte. Ohne Bewegung.

Dann flüsterte Jonas: „D-d-du d-d-darfst n-n-nicht w-w-weg.“

Faro blinzelte. Als würde er es verstehen.


Wieder zu Hause, trocknete Stefanie ihn ab, gab ihm Wasser. Faro fraß nicht viel, aber er legte sich wieder auf die Decke. Jonas saß daneben. Die ganze Nacht.

Am Morgen malte er wieder. Faro. Diesmal mit offenen Augen. Und einem Kompass um den Hals.

„W-w-weil er… immer z-z-zurückfindet.“

Jule sah das Bild später und sagte: „Vielleicht bist du sein Kompass. Vielleicht findet er dich, weil du sprichst. Auch wenn es leise ist.“

Jonas lächelte.


In sein neues Notizbuch schrieb er nur einen Satz:
„Wenn man vermisst wird, ist man nie ganz weg.“

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