Die Stimme für Faro | Ein stotternder Junge. Ein verletzter Hund. Und ein Wort, das alles veränderte

🐾 Teil 6: Zwischen den Zeilen

Die Bibliothek roch nach altem Papier und Heizungsluft. Draußen hatten die ersten Schneeflocken die Dächer überzuckert, und die Fenster waren beschlagen. Drinnen aber war es warm, und die Kinder saßen in einem Halbkreis auf kleinen Sitzkissen.

Jonas stand vorne, neben einem großen bunten Lesesessel. Faro lag zu seinen Füßen, die Pfoten ausgestreckt, den Kopf auf der Seite. Er war inzwischen ein fester Teil der Vorlesestunde geworden. Die Bibliothekarin hatte nichts dagegen, solange er ruhig blieb und das tat er immer.

Jonas hielt ein Buch in der Hand. Es war abgewetzt, die Ecken geknickt. Es handelte von einem Hund, der in den Bergen verlorengeht und von einem Jungen, der ihn sucht. Jule hatte es ausgesucht. „Es passt zu euch beiden“, hatte sie gesagt.

Er begann zu lesen. Langsam, tastend, aber mit einem Ton, der sich festsetzte. Die Kinder hörten zu, hielten ihre kleinen Hände in den Schoß. Ab und zu ein leises Kichern. Aber kein Flüstern, kein Tuscheln.

„D-d-der Hund h-hatte A-angst. A-a-aber e-er ging w-w-weiter. W-weil e-er wusste… d-d-der J-junge suchte i-ihn.“

Ein kleiner Junge in der ersten Reihe hob die Hand. „Heißt das, der Hund wusste, dass er wichtig ist?“

Jonas nickte. „J-ja. E-er… h-hat es g-g-gemerkt.“

Die Bibliothekarin lächelte still. Die Eltern hinten im Raum auch. Niemand sah auf die Uhr.


Nach der Stunde blieben zwei Kinder zurück. Ein Mädchen mit Zöpfen reichte Jonas ein selbstgemaltes Bild – ein Hund unter einem Baum, mit einem Herz darüber.

„Das bist du“, sagte sie. „Und das ist Faro. Ich will auch so einen Hund.“

Jonas sagte nichts. Aber er beugte sich zu ihr und flüsterte: „D-du w-wirst den R-r-richtigen f-finden.“

Sie grinste. Dann lief sie zu ihrer Mutter.

Faro hob den Kopf. Er war wachsam. Irgendetwas draußen hatte seine Aufmerksamkeit geweckt.


Es war kurz nach vier, als Jonas und Jule die Bibliothek verließen. Die Straßen waren glatt, der Schnee matschig. Sie gingen langsam, Faro zwischen ihnen.

Am Zebrastreifen, direkt gegenüber der Bushaltestelle, geschah es.

Ein Junge aus der Vorlesegruppe rannte quer über die Straße, ohne zu schauen. In der Hand ein rotes Auto, das er wohl verloren hatte. Und von links kam ein dunkler Wagen. Viel zu schnell. Die Reifen quietschten. Der Fahrer hupte.

Jonas sah alles wie in Zeitlupe. Den Jungen. Das Auto. Das Rutschen auf dem Eis.

Ohne zu denken schrie er. Laut. Klar. Ohne Stottern.

„Stopp!“

Der Junge blieb stehen. Das Auto schrammte vorbei. Keine Kollision. Nur Stille danach.

Dann ein Schluchzen. Der Junge zitterte. Jonas lief zu ihm, legte die Hände auf seine Schultern.

„A-a-alles gut. D-du… b-bist okay.“

Der Fahrer stieg aus, fluchte, fuhr dann weiter. Niemand wurde verletzt. Aber alle standen unter Schock.


Später, auf dem Heimweg, fragte Jule leise: „Hast du gemerkt, was du gesagt hast?“

Jonas sah sie an. Die Stimme im Kopf zitterte. Aber der Moment war klar gewesen. Rein. Ohne Angst.

„I-ich… h-hab g-geschrien“, sagte er.

„Ja. Und du hast ihn gerettet.“


Am Abend lag Faro wieder auf seiner Decke. Jonas saß daneben, die Finger streichelten das weiche Fell. Stefanie hatte vom Vorfall gehört. Die Mutter des Jungen hatte angerufen. Sie wolle sich bedanken, hatte sie gesagt. Jonas solle wissen, was er getan hatte.

„Ich h-hab… n-n-nicht gedacht“, sagte Jonas.

„Manchmal ist das das Beste“, sagte seine Mutter. „Wenn man einfach tut.“

Faro hob den Kopf, als wollte er zustimmen. Dann ließ er ihn wieder sinken.

Jonas nahm das Notizbuch. Auf die nächste Seite malte er einen Jungen. Mit offenem Mund. Und Schallwellen, die sich in alle Richtungen ausbreiteten.

Oben drüber schrieb er:

„Stimmen sind wie Licht – man sieht sie erst, wenn’s dunkel wird.“


Zwei Tage später stand ein kleiner Artikel in der Lokalzeitung. „Junge verhindert Unfall durch beherzten Ruf“. Kein Name. Nur der Hinweis, dass es bei der Vorlesestunde war. Die Bibliothekarin hatte es weitergegeben.

Jonas zeigte ihn Faro. Der Hund schnupperte daran, dann legte er die Pfote auf das Papier.

Jule lachte. „Na toll. Jetzt seid ihr auch noch berühmt.“

Jonas grinste. Ein echtes, stilles Grinsen.


Am Abend, bevor er ins Bett ging, fragte er leise: „M-mama… g-glaubst du, ich k-kann… irgendwann… n-n-nicht mehr stottern?“

Sie überlegte. Dann sagte sie: „Ich glaube, du wirst lernen, damit zu leben. Und das ist mehr, als viele je schaffen.“

Jonas nickte. Die Worte klangen nicht wie Trost. Sondern wie Wahrheit.

Er legte sich ins Bett. Faro kam dazu, legte sich vor die Tür. Wie immer.

Und Jonas schlief ein mit dem Gedanken, dass seine Stimme da war. Vielleicht nicht stark. Aber da.


In der letzten Zeile des Notizbuchs stand:
„Ich habe gerufen und die Welt hat gehört.“

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