🐾 Teil 10: Wenn man spricht, obwohl man zittert
(Baden-Baden, Ende Januar)
Die Stühle in der Stadtbibliothek standen heute in Reihen, nicht im Halbkreis. Es war ein besonderer Nachmittag. „Tag der kleinen Vorleser“, organisiert vom Literaturkreis Baden-Baden. Eltern, Großeltern, Lehrer – sie alle saßen im Saal, schauten nach vorn. Ein Mikrofon war aufgebaut. Daneben ein Tisch mit einem Glas Wasser.
Jonas saß in der ersten Reihe, das Buch auf dem Schoß. Nicht irgendein Buch. Sondern das, das er selbst geschrieben hatte. Mit Zeichnungen. Mit seinen Wörtern. Mit Faros Geschichte.
Faro lag zu seinen Füßen. Gesund, aufmerksam, ruhig. Er war älter geworden in den letzten Wochen, langsamer. Aber seine Augen waren wach, als würde er wissen, was gleich passieren würde.
Frau Ahrens beugte sich zu Jonas.
„Du musst nicht“, sagte sie. „Nur wenn du willst.“
Jonas nickte. „Ich… will.“
Als sein Name aufgerufen wurde, stand er auf. Die Beine zitterten. Nicht vor Angst. Sondern vor Bedeutung. Er ging langsam nach vorn. Die Schritte waren klein, aber sicher.
Er stellte sich ans Mikrofon. Nahm das Buch in die Hand. Die Seiten waren leicht gewellt vom vielen Halten, Lesen, Üben. Auf der ersten Seite stand: „Für Faro. Der mich gehört hat, bevor ich sprechen konnte.“
Der Saal war still.
Jonas atmete ein.
Dann begann er.
„D-d-diese G-g-geschichte… h-handelt von e-einem H-hund… der m-mehr gehört h-hat, a-als j-j-jeder M-mensch.“
Er las über den ersten Spaziergang. Über das Körbchen am Fenster. Über den Tag im Wald, als Faro in der Falle lag. Und über den Tag, an dem er gerufen hatte – laut, klar, das erste Mal.
Er stotterte. Natürlich.
Aber niemand lachte.
Im Gegenteil. Einige hielten den Atem an, als würde jeder Satz in ihnen widerhallen.
Faro hob zwischendurch den Kopf. Schaute zu ihm auf. Als wollte er sagen: Ich bin noch da.
Und Jonas las weiter.
Als er fertig war, blieb es einen Moment lang ganz still. Dann kam der Applaus. Erst verhalten. Dann lauter. Länger.
Frau Ahrens wischte sich die Augen. Stefanie stand hinten, die Hand über dem Herzen. Jule saß in der zweiten Reihe, Tränen auf den Wangen. Sie klatschte am längsten.
Jonas lächelte. Er beugte sich hinunter, streichelte Faro über den Nacken.
„W-w-war g-g-gut, o-oder?“
Faro leckte seine Hand. Das reichte als Antwort.
Nach der Lesung kamen Leute zu ihm. Fragten, ob er das Buch veröffentlichen wolle. Ob er weiterschreiben werde. Ob er anderen Kindern helfen könne.
Jonas antwortete nicht auf alles. Nur auf das, was er fühlte.
„Ich w-will… w-w-weiter r-red’n. A-a-auch w-wenn’s l-l-laut ist.“
Am Abend, als die Bibliothek leer war und nur noch das Putzlicht über dem Ausgang flackerte, stand Jonas mit Faro im Foyer. Er blickte zu den Regalen, zu den Fenstern, die nun dunkel waren.
Er erinnerte sich.
An das erste Mal, als er hier ein Buch gehalten hatte. Und die Wörter schwer waren wie Steine.
Jetzt trug er sie in der Hand. Und sie waren leicht.
Zu Hause setzte er sich an seinen Schreibtisch. Faro lag neben dem Stuhl, den Kopf auf der Pfote. Die Decke war frisch gewaschen, das Licht warm.
Jonas schlug das letzte Notizbuch auf.
Er schrieb:
„Ich werde nie ohne Stolpern sprechen. Aber ich werde sprechen. Für Faro. Für mich. Für alle, die denken, sie sind zu leise, um gehört zu werden.“
Dann legte er den Stift weg.
Und lächelte.