Die Stunde der Ziegen | Als seine Hündin starb, rückte die Ziegenherde näher und offenbarte ein uraltes Geheimnis

🐾 Teil 4: Ein Abschied im Schnee

Kaspar hielt Alma, während ihr Körper zitterte, als wolle er etwas abschütteln, das tiefer reichte als Krankheit. Er sprach beruhigend auf sie ein, Worte, die mehr Flehen waren als Sprache. Nach einigen Minuten ließ das Zittern nach, und Alma sank wieder schwer in das Wolltuch zurück. Ihr Atem war unregelmäßig, aber er war noch da. Draußen verstummten die Ziegen, als hätten sie den Höhepunkt ihrer geheimnisvollen Zeremonie erreicht.

Kaspar blieb neben ihr knien, die Hände feucht vor Schweiß. Er wagte kaum, sich zu bewegen. Jeder kleine Laut im Raum war bedeutungsvoll. Das Knacken des Ofens, das leise Tropfen vom Fensterrahmen, wo der Schnee geschmolzen war, das Scharren einer Ziege vor der Tür. Alles klang, als gehöre es zu einem größeren Rhythmus, den er noch nicht verstand.

In den frühen Morgenstunden fiel Kaspar in einen leichten Schlaf, zusammengesunken auf der Bank. Ein Laut weckte ihn. Es war nicht Almas Atem, nicht das Meckern der Ziegen. Es war eine Stimme aus seinen eigenen Erinnerungen. Helmas Stimme, die ihn im Traum gerufen hatte. Er öffnete die Augen, sah in das matte Grau des Winters und verstand, dass seine Frau nie ganz von diesem Hof gegangen war. Ihr Lachen war im Holz, ihr Schritt in den Dielen, ihre Wärme in dem Wolltuch, das nun die Hündin schützte.

Alma lag still, erschöpft. Kaspar brachte Wasser an ihre Lippen, und sie trank ein paar Tropfen. Dann wandte sie den Kopf in Richtung Tür. Ihre Augen waren klarer, als wären sie an etwas gebunden, das draußen geschah. Kaspar folgte ihrem Blick. Durch den Spalt konnte er Vesper sehen, die wie eine Wächterin dastand, unbeweglich, den Schnee im Fell.

Am Vormittag kam Selinde erneut vorbei. Sie trug ein Brot in einem Tuch und brachte die Neuigkeiten vom Dorf. Doch als sie die Schwelle überschritt, stockte sie. Ihr Blick fiel auf Alma und dann hinaus in den Hof, wo die Ziegen dicht gedrängt standen. „Es ist, als hielten sie Wache“, flüsterte sie. Kaspar nickte. Er konnte es selbst nicht besser in Worte fassen.

Selinde setzte sich auf die Bank. Sie sprach von Helma, leise, mit einer Behutsamkeit, die nicht aufdringlich war. „Deine Frau hat immer gesagt, Tiere spüren, wenn wir schwach sind. Aber so etwas habe ich noch nie gesehen.“ Ihre Hände hielten das Tuch mit dem Brot, als brauche sie etwas, woran sie sich festhalten konnte. Kaspar antwortete nicht. Er hörte nur Almas Atem und die leise Bewegung der Ziegen draußen.

Als Selinde gegangen war, stand Kaspar lange am Fenster. Er fragte sich, ob er schwach geworden war, ob er längst mehr von den Tieren empfing, als er ihnen gab. Früher war er Bauer gewesen, einer, der Ordnung hielt, der den Rhythmus bestimmte. Jetzt war er ein Mann, der dem Atem einer Hündin lauschte und den Kreis der Ziegen wie ein Geheimnis betrachtete.

Am Nachmittag kam ein Moment, der ihn erschütterte. Alma erhob sich mit letzter Kraft, schwankte, und ging zur Tür. Kaspar stützte sie, doch sie drängte mit einer Entschlossenheit hinaus. Kaum im Hof, stellten sich die Ziegen sofort um sie. Sie berührten sie mit Nüstern, mit Flanken, mit warmen Körpern. Alma blieb in ihrer Mitte stehen, hob die Nase in den Winterwind, und für einen Augenblick wirkte sie so, als sei sie wieder jung.

Kaspar sah das Bild und es schnitt ihm ins Herz. Er spürte, dass dies nicht nur ein Zufall war. Etwas verband diese Tiere miteinander. Vielleicht war es nur die Wärme, vielleicht Instinkt, vielleicht aber auch ein uraltes Band, das Menschen längst vergessen hatten.

Als die Dämmerung hereinbrach, trug Kaspar Alma wieder hinein. Sie legte sich nieder, der Körper schwer, die Augen halb geschlossen. Er setzte sich zu ihr, und während draußen der Schnee weiter fiel, sprach er leise. Er versprach ihr, sie nicht allein zu lassen. Er versprach ihr, dass er das, was sie ihm all die Jahre geschenkt hatte, weitertragen würde, auch wenn es schwer war.

Dann geschah etwas Unerwartetes. Aus dem Stall drang ein Geräusch, das ihn aufhorchen ließ. Es war kein gewöhnliches Scharren, kein Kauen. Es war ein gleichmäßiges Stampfen, als trügen die Ziegen etwas vor. Er trat hinaus und sah, wie sie sich wieder im Kreis bewegten, diesmal schneller, rhythmischer, fast wie ein Tanz. Ihre Augen glänzten im Lampenlicht, und der Schnee wirbelte um ihre Beine.

Kaspar stand im Türrahmen, unfähig, dieses Bild zu deuten. Doch er spürte, dass es ein Zeichen war. Ein letztes Aufbäumen, ein Aufruf, ein Ruf an ihn selbst, endlich zu begreifen. Er wandte sich um, wollte Alma holen, wollte, dass sie dieses Bild noch einmal sah. Doch als er die Tür öffnete, war ihr Atem still geworden.

Kaspar kniete nieder, legte die Hand auf ihr Fell, das noch warm war. Sein Herz schlug unruhig, als müsse es das fehlende Herz ersetzen. Draußen bewegten sich die Ziegen weiter im Kreis, schneller, dringlicher. Und Kaspar verstand, dass er nun allein war, aber nicht verloren. Denn etwas hielt ihn noch, etwas, das aus Ziegenhufen und Atem und Erinnerung bestand.

Die Lampe flackerte, und im letzten Licht sah er, wie Vesper am Rand des Kreises den Kopf hob und ihn direkt ansah. Ein Blick, der sagte, dass die Stunde der Ziegen erst begonnen hatte.

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