Die Stunde der Ziegen | Als seine Hündin starb, rückte die Ziegenherde näher und offenbarte ein uraltes Geheimnis

🐾 Teil 5: Der Gesang der Ziegen

Der Morgen nach Almas Tod brach an, und der Hof war stiller, als Kaspar es je erlebt hatte. Kein Bellen, kein Scharren der Pfoten an der Tür, nur das gleichmäßige Atemholen der Ziegen im Stall.

Der Schnee lag schwer auf den Dächern, der Himmel hing tief, und die Luft roch nach Kälte und Eisen. Kaspar saß am Tisch, die Hände um eine Tasse Kaffee gelegt, die längst kalt geworden war. Sein Blick fiel immer wieder auf das Wolltuch, das über der Lehne des Stuhls hing. Es war noch warm vom letzten Atem seiner Hündin.

Er fühlte sich leer, wie ausgehöhlt. In den ersten Stunden nach dem Abschied war er kaum fähig gewesen, sich zu bewegen. Er hatte nur neben Alma gesessen, bis ihr Körper kalt geworden war. Dann hatte er sie in ein Tuch gewickelt, vorsichtig, als schlafe sie noch. Jetzt lag sie in der kleinen Kammer, die früher Helmas Vorratsraum gewesen war. Dort wartete sie auf den letzten Gang, den Kaspar nicht allein gehen wollte.

Im Hof drängten sich die Ziegen ungewöhnlich dicht. Sie hatten die Nacht nicht unruhig verbracht, sondern wachsam. Immer wieder war einer von ihnen zur Tür gegangen, als wollten sie prüfen, ob noch Leben im Haus war. Vesper hatte die Führung übernommen, das spürte Kaspar. Sie stand meist vorn, ihre Augen suchten den Eingang, und wenn Kaspar hinaustrat, wich sie nicht zurück. Sie war nicht wild, nicht aufdringlich, sondern fordernd in einer Stille, die schwer zu ertragen war.

Gegen Mittag nahm er die Schaufel und begann, im gefrorenen Boden ein Grab auszuheben. Der Platz lag hinter der alten Birke, wo Helma vor Jahren Krokusse gesetzt hatte. Der Boden war hart, doch Kaspar arbeitete, bis Schweiß unter der Wollmütze hervortrat. Er spürte seine Gelenke, hörte das Kratzen von Eisen auf Stein. Immer wieder hielt er inne, richtete sich auf, und jedes Mal sah er die Ziegen am Zaun stehen. Sie rührten sich nicht, blickten nur. Es war, als hätten sie beschlossen, Wache zu halten, bis auch dies vollbracht war.

Als das Grab fertig war, holte er Alma. Er trug sie in den Armen wie ein Kind, und der Schnee knirschte unter seinen Stiefeln. Vesper trat ihm entgegen, blieb dann stehen, und die anderen Ziegen reihten sich hinter ihr auf. Sie folgten ihm nicht, aber sie blickten ihm nach, jeder Schritt begleitet von ihren Augen. Kaspar legte Alma in die Erde, das Wolltuch über ihr. Er sprach kein Gebet, nur ein leises Danke, kaum hörbar, das in den Winter wehte.

Als er die Erde darüber schaufelte, scharrte Miro am Zaun, als wolle er den Rhythmus der Schaufelschläge begleiten. Es war kein unruhiges Scharren, sondern ein Takt, gleichmäßig, fast feierlich. Kaspar hielt inne, sah zu ihm, und für einen Moment schien es, als sei der Bock ein Teil dieses Abschieds, als gebe er den Ton für eine Zeremonie an, die nicht in Menschenhand lag.

Nach der Beerdigung blieb Kaspar lange an der Birke stehen. Er hörte den Wind in den kahlen Ästen, das ferne Klirren des Schnees, der vom Dach fiel. Die Ziegen lösten sich langsam vom Zaun, doch anstatt auf die Weide zu gehen, drängten sie sich wieder dicht zusammen. Sie hielten die Köpfe gesenkt, als trauerten auch sie. Kaspar fühlte sich weniger allein. Es war ein seltsamer Trost, einer, den er nie gesucht hatte, aber der sich jetzt in sein Herz legte.

Am Abend saß er wieder am Tisch, das Licht der Petroleumlampe über ihm. Der Hof war dunkel, nur manchmal hörte man die Ziegen im Stall. Er öffnete schließlich das Glas mit den Pflaumen, das Selinde gebracht hatte, und aß einen Löffel. Der süße Geschmack war fremd, fast schmerzhaft. Er legte den Löffel zurück, schloss die Augen und spürte, wie Erinnerungen an Helma und Alma ineinanderflossen. Zwei Stimmen, zwei treue Begleiterinnen, beide nun fort.

Doch dann geschah etwas, das ihn erschütterte. Aus dem Stall drang ein Laut, ein tiefes, kehliges Meckern, gefolgt von mehreren helleren Stimmen. Es war kein gewöhnliches Blöken. Es klang wie ein Ruf, ein Chor, getragen von einer Energie, die ihn aufstehen ließ. Er öffnete die Tür, trat hinaus in den Schnee.

Die Ziegen standen im Halbkreis vor dem Stall. Vesper in der Mitte, Miro neben ihr, die anderen dicht gedrängt. Ihre Augen glänzten im Mondlicht, und sie gaben wieder diesen Laut von sich, kraftvoll, rau, eindringlich. Kaspar blieb stehen, das Herz klopfte ihm. Er fühlte, dass sie nicht einfach riefen. Sie richteten etwas an ihn.

In diesem Moment wurde ihm klar, dass die Ziegen ihn nicht nur trösten wollten. Sie forderten ihn heraus. Sie wollten, dass er hinsah, dass er nicht im Schmerz versank, sondern etwas Neues annahm. Er stand reglos im Schnee, die Kälte drang ihm durch die Stiefel, und er spürte, dass ein neuer Abschnitt begonnen hatte.

Die Tiere verstummten, so plötzlich, wie sie begonnen hatten. Stille lag über dem Hof. Kaspar kehrte langsam ins Haus zurück, sein Herz schwer, aber nicht mehr leer. Als er die Tür schloss, wusste er, dass Alma gegangen war. Aber er wusste auch, dass die Ziegen etwas von ihr übernommen hatten.

Und tief in ihm regte sich ein Gefühl, das er seit Helmas Tod nicht mehr gekannt hatte: die Ahnung, dass aus Verlust auch ein neuer Bund entstehen kann.

Scroll to Top