🐾 Teil 6: Das Leben der Kleinen
Die Tage nach Almas Begräbnis zogen sich wie ein schwerer Teppich über den Hof. Kaspar erwachte morgens früh, wie er es immer getan hatte, doch die gewohnte Bewegung an der Tür fehlte. Kein Kratzen von Pfoten, kein gedämpftes Bellen, das ihn daran erinnerte, dass die Welt noch auf ihn wartete. Stattdessen hörte er nur das Knarren der Holzdielen unter seinen eigenen Schritten und das geduldige Scharren der Ziegen im Stall.
Der Winter blieb streng. Schneeverwehungen sammelten sich an den Zäunen, die Wege zum Dorf waren mühsam zu gehen. Kaspar arbeitete langsamer als früher, seine Bewegungen schwer, und doch war er nicht allein. Immer wieder fiel ihm auf, dass die Ziegen ihm folgten, enger bei ihm blieben, als er es je erlebt hatte. Wenn er Wasser schöpfte, standen sie dicht, als wollten sie ihn begleiten. Wenn er Heu verteilte, warteten sie still, statt gierig zu drängen. Es war, als hätten sie sich auf eine neue Rolle verständigt.
Eines Morgens, noch bevor die Sonne aufging, hörte er ein Geräusch, das ihn frösteln ließ. Ein heiseres, langgezogenes Meckern, das aus dem Stall kam. Er trat hinaus, der Schnee knirschte unter den Stiefeln, und als er die Tür öffnete, sah er Vesper stehen, regungslos, den Kopf gesenkt.
Die anderen Tiere bildeten einen Halbkreis um sie. Für einen Augenblick schien es, als würde Vesper Alma rufen, als sei die Hündin nur verschwunden und müsste zurückgeholt werden. Kaspar stand still, sein Atem sichtbar in der Kälte, und er fühlte, wie ihn eine Welle aus Trauer und Trost zugleich durchströmte.
An diesem Tag begann er zu reden, nicht mehr nur mit der Erinnerung an Alma, sondern mit den Ziegen selbst. Er erzählte ihnen beim Füttern von Helma, von den Jahren, die er mit ihr verbracht hatte, von dem Verlust, der ihn zurückgelassen hatte wie ein leeres Gefäß. Er sprach von Alma, die jede Furche des Hofes kannte, die seine Stille ausgehalten hatte, ohne sie zu füllen. Die Ziegen blickten ihn an, ihre Augen dunkel und ruhig, und Kaspar hatte das Gefühl, dass sie etwas davon verstanden.
Am Nachmittag kam Selinde erneut vorbei. Sie brachte Milch von ihren Kühen und setzte sich zu ihm. Ihr Blick wanderte zum Fenster, wo die Ziegen wieder dicht beieinanderstanden. „Sie halten wirklich bei dir“, sagte sie, und in ihrer Stimme lag eine Mischung aus Verwunderung und Respekt. „Vielleicht will dir das sagen, dass du nicht alles allein tragen musst.“ Kaspar sah sie lange an, aber er fand keine Antwort. Worte waren ihm fremd geworden, seit Alma nicht mehr atmete.
Doch in der Nacht geschah etwas, das ihn aufhorchen ließ. Er lag wach, der Wind pfiff um das Haus, und plötzlich hörte er im Stall ein Stampfen. Nicht wild, nicht chaotisch, sondern gleichmäßig, fast wie Trommelschläge. Er stand auf, zog den Mantel über und öffnete vorsichtig die Tür. Der Mond warf blasses Licht über den Hof. Im Stall bewegten sich die Ziegen im Kreis, wieder und wieder, ihre Hufe schlugen den Takt, während sie eng aneinanderblieben. Vesper führte sie an, Miro folgte dicht, die anderen reihten sich ein. Es sah aus wie ein Ritual, uralt und unbegreiflich.
Kaspar stand im Türrahmen und konnte sich nicht lösen. Er erinnerte sich an Geschichten, die Helma ihm erzählt hatte, von alten Bauern, die sagten, Tiere könnten Grenzen überschreiten, die wir Menschen nicht sehen. Damals hatte er gelächelt, hatte es für Aberglauben gehalten. Doch nun war er Zeuge von etwas, das keine Erklärung brauchte. Es war einfach da, und es erfüllte den Hof mit einer Schwere, die zugleich Trost war.
Er trat näher, und die Ziegen hielten inne. Vesper hob den Kopf, sah ihn direkt an, und Kaspar hatte den Eindruck, in diesem Blick lag ein Auftrag. Er konnte ihn nicht in Worte fassen, aber er spürte, dass er nicht in der Trauer verharren durfte. Etwas Neues wartete, etwas, das vielleicht aus diesem Kreis erwuchs.
Am nächsten Morgen fand er einen der Junghasen, die jüngste der drei Schwestern, krank im Stall. Ihr Atem war rasselnd, ihr Körper schwach. Kaspar kniete sich zu ihr, erinnerte sich an die Worte von Dr. Merten und wusste sofort, was zu tun war. Er legte Stroh um sie, gab ihr warmes Wasser, sprach beruhigend auf sie ein. Vesper stellte sich dicht daneben, Miro ebenfalls. Sie wichen nicht zurück, während er das Tier versorgte.
Kaspar fühlte einen Stich im Herzen. Es war, als hätte sich die Geschichte wiederholt, als sei Almas Krankheit in diese kleine Ziege übergegangen. Doch diesmal war er nicht ohnmächtig. Er handelte, tat alles, was er konnte. Und während er es tat, spürte er, dass die Last leichter war, weil er sie teilte.
Am Abend legte sich Stille über den Hof. Die junge Ziege ruhte, noch schwach, aber lebendig. Kaspar saß im Stall, den Rücken an das Holz gelehnt, und sah die Tiere an. Sie bildeten erneut ihren Kreis, diesmal nicht um den Tod, sondern um das Leben. Und in diesem Moment verstand er, dass sie ihm etwas beibrachten: dass auch Trauer nicht nur Ende, sondern Anfang sein konnte.
Die Nacht kam, und der Wind trug den Klang der Glocken aus dem Dorf herüber. Kaspar schloss die Augen, atmete tief, und er wusste, dass er nicht mehr nur ein Mann war, der etwas verloren hatte. Er war jemand, der noch immer verbunden war, durch Tiere, durch Erde, durch eine unsichtbare Ordnung.
Und als er die Augen wieder öffnete, sah er Vesper, die ihn anblickte. In diesem Blick lag keine Trauer mehr, sondern Erwartung.