Die Stunde der Ziegen | Als seine Hündin starb, rückte die Ziegenherde näher und offenbarte ein uraltes Geheimnis

🐾 Teil 7: Der neue Bund

Die junge Ziege erholte sich nur langsam. Kaspar verbrachte Stunden im Stall, den Blick auf ihren schmalen Körper gerichtet, während ihre Flanken unruhig auf und ab gingen. Vesper wich nicht von ihrer Seite. Es war, als habe sie die Rolle übernommen, die einst Alma erfüllt hatte: Wächterin, Begleiterin, stumme Trösterin.

Kaspar fühlte sich hin und hergerissen. Einerseits wuchs in ihm die Sorge, wieder ein Lebewesen zu verlieren, das ihm ans Herz gewachsen war. Andererseits spürte er eine neue Kraft, die ihn trug. Er hatte Alma nicht retten können, doch hier konnte er handeln. Jede Schale Wasser, jedes Büschel Heu, jede Bewegung seiner Hände war wie ein stilles Versprechen, diesmal nicht zu versagen.

In den folgenden Tagen verschärfte sich der Winter. Der Schnee türmte sich höher, die Wege ins Dorf wurden unpassierbar. Kaspar war abgeschnitten von der Welt, allein mit den Tieren, dem Wind, der durch die Bretter pfiff, und der Erinnerung an Stimmen, die nicht mehr sprachen. Selinde kam nicht mehr vorbei, und auch Dr. Merten konnte den Hof nicht erreichen. Es war, als habe sich die Welt zusammengeschoben, reduziert auf diesen einen Hof und seine Bewohner.

Am dritten Tag ohne Besuch trat Kaspar in den Stall und blieb abrupt stehen. Die Ziegen standen wieder im Kreis, die junge Ziege in ihrer Mitte. Doch diesmal lag sie nicht matt, sondern erhob den Kopf, ihre Augen klarer als zuvor. Vesper stieß ein kurzes, helles Meckern aus, die anderen antworteten, und das kleine Tier stand langsam auf. Unsicher, schwankend, aber auf den Beinen. Kaspar fühlte, wie ihm Tränen in die Augen stiegen. Es war, als hätten die Tiere sie gemeinsam zurück ins Leben geholt.

Er kniete nieder, strich über den schmalen Rücken, und zum ersten Mal seit langer Zeit sprach er laut den Namen der Ziege. „Sorella.“ Das Wort hallte im Stall nach, warm und fremd zugleich. Er hatte die Tiere bisher kaum mit Namen gerufen, doch in diesem Moment erschien es ihm notwendig. Sorella blinzelte, als habe sie verstanden, und schmiegte sich leicht an seine Hand.

Von da an änderte sich die Stimmung. Der Hof, der in den letzten Wochen wie in Trauer gehüllt gewesen war, begann sich zu bewegen. Die Ziegen wurden lebhafter, sie sprangen wieder, drängten sich am Futtertrog, rieben ihre Köpfe aneinander. Kaspar spürte die Veränderung auch in sich. Die Leere war noch da, doch sie war nicht mehr bodenlos. Sie hatte Ränder bekommen, an denen er sich halten konnte.

In einer Nacht, als der Mond klar über der verschneiten Rhön stand, erwachte Kaspar von einem Geräusch. Er trat hinaus, die Kälte biss in seine Haut, doch er blieb stehen, unfähig, sich zu bewegen. Auf der verschneiten Fläche vor dem Stall liefen die Ziegen in einem Kreis, langsamer als sonst, fast würdevoll. In ihrer Mitte stand Sorella, und ihr Atem dampfte wie ein kleines Feuer in der Kälte.

Kaspar fühlte, dass er Zeuge einer Zeremonie war, die älter war als jede Geschichte, die er kannte. Er dachte an Alma, an die Nacht, in der sie gestorben war, an die Ziegen, die den Kreis geschlossen hatten. Nun war es wieder ein Kreis, doch diesmal um das Leben, nicht um den Tod. Er stand barhäuptig im Schnee, spürte die Kälte nicht, nur die Wärme, die von diesem Bild ausging.

Er sprach leise, fast flüsternd. „Ihr zeigt mir etwas, das ich nie begriffen habe.“ Seine Stimme brach, doch er fuhr fort. „Dass wir nicht allein sind, selbst wenn wir allein scheinen.“

Die Ziegen blieben noch eine Weile im Kreis, dann lösten sie sich langsam auf. Vesper trat einen Schritt auf ihn zu, blickte ihn lange an, ehe sie wieder in den Stall ging. Kaspar stand noch immer im Schnee, und als er zurück ins Haus ging, wusste er, dass dieser Winter ihm nicht nur Verlust gebracht hatte, sondern auch einen neuen Anfang.

Am nächsten Tag machte er sich daran, den Hof aufzuräumen. Er fegte den Schnee vom Dach, schaufelte die Wege frei, stapelte Holz. Seine Hände arbeiteten, sein Atem dampfte, und er spürte eine Energie, die er nicht erwartet hatte. Sorella folgte ihm neugierig, tapste vorsichtig durch den Schnee, und die anderen blieben in seiner Nähe.

Am Abend saß Kaspar am Tisch, die Lampe brannte, und er schrieb in ein altes Notizbuch, das Helma ihm vor Jahren geschenkt hatte. Er schrieb von Alma, von den Ziegen, von Sorella. Er schrieb, weil er das Gefühl hatte, dass diese Geschichte nicht verschwinden durfte. Dass sie festgehalten werden musste, für ihn, für den Hof, vielleicht für jemanden, der eines Tages verstehen wollte.

Als er den Stift niederlegte, sah er hinaus in den Hof. Vesper stand vor der Tür, unbeweglich, wie eine Wächterin. Kaspar erhob sich, öffnete das Fenster einen Spalt und ließ kalte Luft herein. „Ich danke euch“, flüsterte er.

Die Ziegen bewegten sich nicht. Aber Sorella stieß ein leises, helles Meckern aus, das durch die Nacht hallte wie ein Versprechen.

Und Kaspar wusste, dass dies nicht das Ende war, sondern die Vorbereitung auf etwas, das noch kommen musste.

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