🐾 Teil 8: Das Ritual im Winter
Der Februar brachte eine Härte, die selbst für die Rhön ungewöhnlich war. Nächte mit Temperaturen weit unter Null, Tage, an denen der Frost in die Erde biss wie ein stummer Feind. Kaspar kämpfte sich durch die Stunden, die Hände rissig, der Atem weiß. Der Hof war klein, doch in dieser Kälte fühlte er sich wie eine Festung, die jeden Tag neu verteidigt werden musste.
Die Ziegen blieben dicht, selbst wenn er sie auf die Weide treiben wollte. Es war, als sei der Stall zu ihrem Zentrum geworden, und Kaspar akzeptierte es. Er begann zu verstehen, dass die Tiere sich nicht gegen den Winter stellten, sondern in ihm eine Ordnung fanden. Sie bewegten sich zusammen, fraßen zusammen, ruhten zusammen. Vesper behielt die Führung, Miro die Ruhe, und Sorella, noch schwach, wuchs langsam in die Mitte des Herzens hinein.
Eines Abends, als der Wind durch die Fugen heulte, hörte Kaspar draußen ein Geräusch, das nicht in den Hof gehörte. Schritte, hastig, im Schnee. Er öffnete die Tür und sah eine Gestalt, die sich mühsam den Weg bahnte. Es war ein Junge aus dem Dorf, Thomas Jank, kaum sechzehn, der Sohn eines entfernten Nachbarn. Sein Gesicht war gerötet, sein Atem kurz.
„Herr Lewerenz“, rief er, „mein Vater hat mich geschickt. Wir haben drüben eine Ziege verloren, plötzlich, ohne Anzeichen. Er sagt, Sie sollen nachsehen, ob bei Ihnen etwas Ähnliches passiert.“
Kaspar nickte, ließ den Jungen eintreten, gab ihm eine Schale warmen Tee. Während er sprach, blickte er hinaus zum Stall. Die Ziegen waren unruhig, drängten sich dichter aneinander. Es war, als hätten sie die Nachricht gespürt, noch bevor Thomas sie ausgesprochen hatte.
Nachdem der Junge gegangen war, ging Kaspar selbst hinaus, prüfte die Tiere. Keiner war krank, keiner schwach, doch die Unruhe blieb. Vesper stampfte, Miro schüttelte den Kopf, Sorella drängte sich gegen seine Beine. Kaspar fühlte, dass etwas bevorstand, auch wenn er es nicht benennen konnte.
In der Nacht konnte er nicht schlafen. Immer wieder stand er auf, trat hinaus in die Kälte, sah nach den Tieren. Der Himmel war klar, die Sterne scharf. Doch im Hof lag eine Spannung, die sich nicht erklären ließ. Die Ziegen bildeten wieder ihren Kreis, diesmal enger als je zuvor. Kaspar trat näher, und Vesper hob den Kopf. Ihr Blick traf ihn, dunkel und fest, und er verstand, dass dies ein Moment war, den er nicht vergessen durfte.
Am nächsten Tag kam Dr. Merten durch den Schnee. Sie wirkte müder als sonst, der Weg hatte sie gezeichnet. Sie sah die Ziegen, hörte Kaspars Bericht und runzelte die Stirn. „Vielleicht geht eine Krankheit im Tal um“, sagte sie, „manchmal geschieht es, dass Tiere zeitgleich schwächeln, wenn das Wetter so streng ist.“ Doch ihre Stimme klang nicht überzeugt. Sie untersuchte jede Ziege, fand nichts, nickte schließlich und sah Kaspar lange an. „Wenn sie so nah zusammenbleiben, wie Sie sagen, dann schützen sie sich. Vielleicht mehr, als wir verstehen.“
Als sie gegangen war, blieb Kaspar am Stall zurück. Er strich Sorella über den Rücken, spürte das zarte Fell. Sie drängte sich gegen seine Hand, und er dachte, dass sie vielleicht die Brücke war zwischen Vergangenheit und Zukunft, zwischen Alma und dem, was jetzt kam.
Am Abend, als die Sonne rot über den Hügeln versank, geschah es. Die Ziegen drängten sich plötzlich zusammen, stießen Laute aus, die er nie zuvor gehört hatte. Es war kein Meckern, kein Blöken, es war tiefer, rauer, beinahe wie ein Lied. Kaspar stand da, das Herz pochte ihm bis in die Kehle. Die Tiere bewegten sich wieder im Kreis, doch diesmal nicht ruhig. Es war ein Drängen, ein Stampfen, ein gemeinsamer Rhythmus, der durch den Schnee hallte.
Sorella stand in der Mitte, die Beine unsicher, doch ihr Kopf erhoben. Sie blickte direkt zu Kaspar, und er fühlte, dass hier etwas geschah, das ihn betraf. Nicht nur die Tiere, nicht nur den Hof. Ihn selbst.
Er trat näher, wagte sich in den Kreis, und die Ziegen wichen nicht zurück. Sie öffneten sich, ließen ihn eintreten, und er stand plötzlich neben Sorella. Ihr Atem dampfte, ihr Körper war warm. Vesper schloss den Kreis wieder, und Kaspar war eingeschlossen zwischen all den Tieren, die ihn mit ihren Augen musterten.
Für einen Moment verlor er jedes Gefühl von Zeit. Der Schnee fiel leise, der Wind schwieg, und alles, was blieb, war der Takt der Hufe und der Atem der Ziegen. Er fühlte, dass er Teil eines Rituals geworden war, das älter war als er, älter als der Hof, älter vielleicht als jedes Wort, das Menschen dafür gefunden hatten.
Dann, ohne Vorwarnung, verstummten die Tiere. Sorella legte den Kopf an seine Hand, Vesper senkte die Hörner, und Miro trat dicht an ihn heran. Kaspar spürte die Wärme all dieser Körper, und plötzlich durchzuckte ihn ein Gedanke, klar und unerbittlich: Alma war nicht fort. Sie war in diesem Kreis, in dieser Wärme, in diesem Rhythmus. Nicht mehr mit Pfoten, sondern mit etwas, das tiefer reichte.
Er stand still, unfähig, sich zu rühren. Dann löste sich der Kreis, langsam, fast feierlich. Die Ziegen gingen auseinander, der Hof wurde wieder still. Kaspar blieb im Schnee zurück, den Kopf gesenkt, die Hand noch immer warm von Sorellas Fell.
Und er wusste, dass er diese Nacht nie vergessen würde. Sie war ein Schlüssel, auch wenn er noch nicht wusste, welche Tür sich öffnen würde.