Die Stunde der Ziegen | Als seine Hündin starb, rückte die Ziegenherde näher und offenbarte ein uraltes Geheimnis

🐾 Teil 9: Der Kreis des Lebens

Die Tage nach jener Nacht fühlten sich anders an. Kaspar wachte nicht mehr mit der gewohnten Schwere auf, sondern mit einer Erwartung, die er nicht benennen konnte. Der Hof schien stiller, aber nicht leer. Wenn er hinausging, spürte er die Augen der Ziegen auf sich. Nicht fordernd, nicht ängstlich, sondern prüfend, als wollten sie sehen, ob er verstanden hatte, was in jener Nacht geschehen war.

Sorella blieb auffallend nah bei ihm. Sie wich kaum von seiner Seite, wenn er Holz trug, Wasser schöpfte oder Heu verteilte. Es war, als habe sie sich entschieden, seine neue Begleiterin zu sein, so wie Alma es immer gewesen war. Doch es war nicht das gleiche. Sorella war keine Hündin, kein Tier, das Befehle ausführte. Sie war ein eigenes Wesen, das sich freiwillig in seine Nähe stellte. Und gerade deshalb wog ihre Gegenwart schwerer.

Eines Abends, als der Wind wieder hart über die Hügel peitschte, kam Selinde durch den Schnee. Sie brachte Käse, eingewickelt in Tuch, und trat in die warme Küche. Ihr Blick fiel sofort auf das Notizbuch auf dem Tisch, in dem Kaspar in den letzten Tagen geschrieben hatte. „Du schreibst?“, fragte sie, und ihre Stimme klang erstaunt. Kaspar nickte. „Ich muss es festhalten. Sonst glaube ich irgendwann selbst nicht mehr, was hier geschieht.“

Selinde schwieg einen Moment, dann legte sie ihre Hand auf das Tuch mit dem Käse. „Vielleicht solltest du nicht nur für dich schreiben. Vielleicht braucht jemand anderes diese Geschichte.“ Kaspar antwortete nicht. Doch die Idee setzte sich in ihm fest wie ein Same, der erst im Winter wartet, um im Frühling auszutreiben.

Die Nächte blieben seltsam. Immer wieder hörte er Schritte im Stall, gleichmäßiges Stampfen, das ihn weckte. Manchmal ging er hinaus und sah, wie die Ziegen sich erneut im Kreis bewegten, diesmal ohne Hast, ohne Laut. Ein ruhiges Schreiten, das wie ein Gebet wirkte. Kaspar stand dann still, wagte kaum zu atmen, und in diesen Augenblicken fühlte er sich so nah bei Alma, dass es schmerzte.

Doch eines Nachts war es anders. Er hörte keinen Takt, keinen Kreis. Stattdessen ein lautes, raues Meckern, gefolgt von einem Drängen, das fast panisch klang. Er lief hinaus, der Schnee schlug ihm ins Gesicht, und im Stall fand er die Tiere unruhig. Vesper stampfte, Miro drängte gegen die Bretter, die Junghasen sprangen nervös auf und ab. Nur Sorella stand still in der Mitte, ihre Augen weit, als wisse sie etwas, das er nicht wusste.

Kaspar trat näher, legte die Hand auf ihren Rücken. Ihr Atem war ruhig, doch sie wich nicht aus. In diesem Moment verstand er, dass die Unruhe nicht aus dem Stall kam, sondern von ihm selbst. Sein Herz schlug schneller, sein Atem war flach. Er hatte Angst, wieder zu verlieren. Die Ziegen spürten es, nahmen es auf, trugen es wie ein Spiegel zurück.

Er setzte sich auf den kalten Boden, mitten unter ihnen. Stundenlang blieb er dort, sprach leise, bis sein Atem ruhiger wurde. Erst dann beruhigten sich auch die Tiere. Sie legten sich nieder, einer nach dem anderen, bis schließlich nur noch ihr gleichmäßiges Schnauben den Stall erfüllte. Kaspar saß da, die Hände zitternd, und begriff, dass er selbst Teil dieser Ordnung geworden war. Nicht Herr, nicht Besitzer, sondern einer von ihnen.

Am nächsten Tag schien die Sonne zum ersten Mal seit Wochen. Der Schnee glitzerte, die Luft war klar. Kaspar ging hinaus und blieb stehen, geblendet vom Licht. Die Ziegen drängten sich hinter ihn, und Sorella sprang plötzlich vor, leichtfüßig, als sei sie nie krank gewesen. Sie drehte sich zu ihm um, ihre Augen lebendig, und in diesem Moment durchfuhr ihn ein warmer Strom. Es war, als habe Alma selbst dieses Leben weitergegeben, als sei nichts verloren, nur verwandelt.

Er lachte, leise, unsicher, doch es war das erste Lachen seit Monaten. Es klang fremd in seinen Ohren, aber es befreite ihn. Die Ziegen blieben stehen, sahen ihn an, und Vesper stieß ein kurzes Meckern aus, als bestätige sie den Augenblick.

Am Abend schrieb er wieder. Doch diesmal nicht von Trauer, sondern von dem Licht, das zurückgekehrt war. Er schrieb von Sorella, die über den Schnee sprang, von Vesper, die wachte, von Miro, der Ruhe gab. Er schrieb von einem Hof, der nicht leer war, sondern voll von Leben, das ihn trug.

Als die Dunkelheit kam, saß er am Fenster. Der Mond hing über den Hügeln, und im Stall bewegten sich die Ziegen. Kein Kreis diesmal, kein Takt, nur ruhige Schritte. Sorella trat vor die Tür, sah zu ihm hinauf, und er hob die Hand zum Gruß.

In diesem Augenblick wusste er, dass die Stunde der Ziegen nicht mit Almas Tod begonnen hatte, sondern viel früher. Vielleicht mit Helmas Händen, die den Hof gebaut hatten. Vielleicht mit den ersten Atemzügen all der Tiere, die hier gelebt hatten. Es war ein Strom, in den er hineingeraten war, ein Band, das weitertrug.

Und tief in ihm wuchs die Ahnung, dass noch eine Prüfung bevorstand. Eine, die entscheiden würde, ob er diese Stunde annehmen konnte oder ob sie ihn zerbrechen würde.

Scroll to Top