🐾 Teil 10: Der Frieden unter der Birke
Der März brach an, und mit ihm kam das Tauen. Das Wasser lief von den Dächern, sammelte sich in kleinen Rinnsalen am Hof, die Erde wurde weich. Der Schnee wich langsam zurück, und unter der Birke, wo Alma lag, schoben die ersten Krokusse ihre Spitzen durch den Boden. Kaspar stand oft dort, die Mütze in den Händen, und sprach leise Worte, die der Wind mitnahm.
Die Ziegen blieben ihm nah. Er hatte gelernt, ihre Bewegungen zu lesen, ihre Stimmungen zu deuten. Vesper war die Wächterin, Miro der stille Fels, die Junghasen die Lebendigkeit, die ihn manchmal zum Schmunzeln brachte. Und Sorella, die Kleine, war inzwischen kräftiger geworden, ihr Gang sicher, ihr Blick neugierig. Sie wich nicht von seiner Seite. Wenn er ging, folgte sie. Wenn er stehenblieb, blieb sie stehen.
Doch mit dem Tauwetter kamen auch die Gefahren. Der Fluss, der am Rande der Weiden floss, schwoll an. Das Schmelzwasser drängte, laut und bedrohlich. Kaspar wusste, dass er die Tiere fernhalten musste, doch eines Nachmittags geschah es. Sorella, von jugendlicher Ungeduld getrieben, sprang über den Zaun und lief Richtung Fluss.
Kaspars Herz stockte. Er rief, doch sie hörte nicht. Der Boden war rutschig, und das Wasser rauschte laut. Die anderen Ziegen drängten unruhig am Zaun, Vesper meckerte heftig, Miro stampfte. Kaspar rannte, die Stiefel schwer im nassen Boden, sein Atem brannte.
Er erreichte das Ufer, gerade in dem Moment, als Sorella abrutschte. Ihr Körper glitt über das nasse Gras, die Beine strampelten, das Wasser gierte nach ihr. Ohne nachzudenken sprang Kaspar hinterher, packte sie am Fell, spürte die Kälte, die ihn wie Messer schnitt. Das Wasser riss, schlug gegen seine Brust, doch er hielt Sorella fest. Mit aller Kraft kämpfte er sich zurück ans Ufer, die Muskeln brannten, die Hände klammerten. Endlich gelang es ihm, sie aus dem Wasser zu hieven.
Keuchend sank er neben ihr nieder. Sorella zitterte, stieß ein klägliches Meckern aus, doch sie lebte. Kaspar drückte sie an sich, spürte ihre Wärme trotz der Nässe. Er selbst war durchnässt, der Körper schwer, doch in diesem Moment war es egal. Er hatte sie gehalten. Er hatte nicht wieder losgelassen.
Die Ziegen drängten heran, als er sie zurück zum Hof trug. Vesper lief dicht neben ihm, als prüfe sie jeden Schritt, die anderen folgten im Schwarm. Im Stall legte er Sorella auf frisches Stroh, deckte sie mit Tüchern zu. Sein Atem war flach, seine Glieder schmerzten, doch er fühlte sich lebendig wie lange nicht mehr.
In dieser Nacht wachte er an ihrer Seite. Immer wieder legte sie den Kopf an seine Hand, als danke sie ihm. Vesper stand dicht daneben, Miro ruhte nicht weit entfernt. Es war, als hielten sie Wache über ihn genauso wie über Sorella. Kaspar dachte an Alma, an Helma, an all die Verluste. Und er begriff, dass dieser Moment nicht nur Rettung für ein Tier gewesen war, sondern für ihn selbst.
Als der Morgen graute, trat er hinaus. Die Sonne brach durch den Nebel, das Licht lag golden über dem Hof. Er hörte das Blöken der Ziegen, das rhythmische Stampfen ihrer Hufe, und plötzlich wusste er, dass die Stunde der Ziegen nicht in Trauer wurzelte, sondern in der Treue des Lebens selbst.
Er ging zur Birke, wo die Krokusse leuchteten. Er kniete sich nieder, legte die Hand auf den Boden, unter dem Alma ruhte. „Ich habe sie gehalten“, flüsterte er. „Diesmal habe ich sie gehalten.“ Der Wind strich durch die Äste, als Antwort.
An diesem Tag begann er, neue Zäune zu bauen, die Weiden zu richten, den Hof auf den Frühling vorzubereiten. Seine Bewegungen waren nicht mehr schwer, sondern getragen von einer inneren Kraft. Die Ziegen folgten ihm, Sorella hüpfte bereits wieder, wenn auch noch vorsichtig. Der Hof atmete.
Am Abend setzte er sich an den Tisch, schlug das Notizbuch auf und schrieb: „Dies ist keine Geschichte vom Ende. Es ist eine Geschichte von Kreisen. Von Tieren, die mich lehren, dass kein Verlust endgültig ist. Dass etwas weitergeht, immer, in anderer Form, in anderem Atem, in einem Blick, der bleibt.“
Er legte den Stift nieder, sah hinaus in den Hof. Vesper stand vor der Tür, regungslos, wie ein Zeichen. Sorella sprang daneben, ihre Bewegungen voller Leben. Kaspar hob die Hand, und zum ersten Mal seit langer Zeit fühlte er keinen Schmerz, sondern Dankbarkeit.
Die Sonne sank, und der Himmel färbte sich in warmes Rot. Über dem Hof lag ein stilles Einverständnis. Kaspar wusste, dass er alt war, dass er eines Tages auch diesen Hof verlassen würde. Doch er wusste ebenso, dass die Stunde der Ziegen weiterging, ob er da war oder nicht.
Und in diesem Wissen lag Frieden.