Ich lüge meinen Vorgesetzten jeden einzelnen Tag an.
Ich bin zweiundsiebzig Jahre alt, war früher ehrenamtlich in meiner Gemeinde aktiv, zahle meine Steuern pünktlich und habe nie in meinem Leben einen Strafzettel bekommen.
Und doch habe ich in den letzten neun Jahren einen kleinen „Trick“ durchgezogen, der im Sozialkaufhaus Sonnenweg niemandem offiziell bekannt ist.
Würde jemand es merken, müsste ich wahrscheinlich sofort meine Schürze abgeben. Aber das spielt keine Rolle. Denn in einer Welt, in der Menschen oft um ihre Würde kämpfen müssen, habe ich einen Weg gefunden, sie ihnen zurückzugeben.
Meine Arbeit ist einfach: Ich sortiere die Spenden, prüfe Jacken, Hosen, Kaffeemaschinen, Stiefel, alles, was irgendein zweites Leben verdient. Für die meisten Kundinnen und Kunden bin ich unsichtbar – ein alter Mann mit steifen Fingern und einer Lesebrille, der Dinge etikettiert, die nach fremden Haushalten und vergangenen Jahren riechen.
Doch Unsichtbarkeit hat Vorteile. Man sieht eben vieles.
Ich sehe die alleinerziehenden Mütter, die den Preis von Kinderschuhen gegen die Kosten der nächsten Stromrechnung abwägen. Ich sehe die Männer, die nach Monaten Arbeitslosigkeit einen Anzug für ein Bewerbungsgespräch brauchen und dann wortlos weitergehen, weil ihr Geldbeutel es nicht zulässt.
Und ich sehe den Jungen vor mir, den ich nie vergessen werde.
Es war Mitte November in unserer kleinen, grauen Stadt. Der Wind blies wie ein Messer durch die Straßen. Der Junge kam herein, vielleicht vierzehn, mager, mit einem dünnen Kapuzenpullover, unter dem man das T-Shirt erkennen konnte. Er zitterte leicht und nicht nur vor Kälte.
Er ging direkt zu den Jacken. Eine dunkelblaue Winterparka hing dort: dick gefüttert, kaum getragen, der Preis lag bei 25 Euro. Ein Schnäppchen für viele, aber ein Vermögen für ihn.
Er tastete den Ärmel, prüfte das Etikett und ließ die Schultern sinken. Kein Seufzer, kein Jammern. Nur ein stilles Einverständnis mit seiner Realität. Er hängte die Jacke vorsichtig zurück und ging Richtung Tür.
Mir zog es das Herz zusammen. Aber ich wusste aus Erfahrung: Man darf niemanden das Gefühl geben, ein Fall für „Barmherzigkeit“ zu sein. Hilfe ist nur dann Hilfe, wenn sie die Würde lässt.
Also nahm ich die Jacke vom Bügel und stellte mich ihm in den Weg.
„He, junger Mann“, rief ich.
Er blieb stehen, als wäre er ertappt. „Ich hab’ nichts genommen.“
„Weiß ich“, brummte ich und legte die Jacke auf den Tresen. „Aber ich hab ein Problem. Dieser Reißverschluss hakt unten. Laut interner Regel darf ich fehlerhafte Ware nicht teurer als drei Euro verkaufen. Hast du drei Euro?“
Er runzelte die Stirn. „Da steht doch fünfundzwanzig.“
„Etikett ist falsch“, sagte ich und zog es ab. „Ich bin derjenige, der hier inventarisiert. Ich entscheide. Entweder drei Euro oder ich muss das Ding wegwerfen.“
Er zögerte – suchte in meinem Gesicht nach einem Haken. Dann zog er drei zerknitterte Münzen und Scheine aus seiner Hosentasche.
„Ja… ich nehme sie.“
Er zog die Jacke sofort an. Der Reißverschluss glitt einwandfrei. Er stand etwas gerader da, nicht mehr wie ein frierender Junge, sondern wie jemand, der eine kluge Entscheidung getroffen hatte. Wie jemand, der es verdient hatte, warm zu sein.
„Danke“, flüsterte er.
„Hausregel“, murmelte ich und drehte mich weg, damit er meine feuchten Augen nicht sah.
Es blieb nicht bei ihm.
Mit der Zeit wurde diese „Hausregel“ zu meiner stillen Waffe. Wenn eine ältere Dame mit kleiner Rente einen Toaster brauchte, reduzierte ich ein gut funktionierendes Gerät wegen eines angeblich „wackligen Knopfes“.
Wenn ein junger Mann für seinen ersten Arbeitstag stabile Stiefel brauchte, erklärte ich den Tag kurzerhand zum „Arbeitsschuh-Morgenrabatt“.
Alles im Rahmen meiner Möglichkeiten. Alles ohne jemanden bloßzustellen. Niemand hat Schaden genommen. Ich habe lediglich dafür gesorgt, dass manche Dinge den richtigen Weg finden.
Eines Nachmittags stand eine Fremde am Tresen – elegante Erscheinung, Wollschal, ruhiges Lächeln. Sie hatte gesehen, wie ich einem verängstigten Mädchen einen Kinderwagen für zehn Euro verkauft hatte.
Ich erwartete eine Beschwerde. Stattdessen legte sie schweigend einen gefalteten Fünfzig-Euro-Schein hin.
„Für Ihre… kreativen Lösungen“, sagte sie leise.
Nach und nach verstanden die Stammkundinnen und -kunden. Sie sagten nichts. Sie kauften eine Kleinigkeit, gaben etwas mehr, und murmelten: „Für den nächsten, bei dem die ‘Hausregel’ greift.“
So entstand ein unsichtbares Netz. Kein Almosen. Kein Mitleid. Nur gegenseitige Würde.
Letzten Dienstag kam ein Mann herein — groß, kräftig, in einer Uniform des Rettungsdienstes. Aufrecht, selbstbewusst. Er suchte nichts, sondern ging direkt zu mir.
„Sie sind Herr Bergmann?“, fragte er.
Ich schob meine Brille zurecht. „Ja.“
„Ich bin Luis“, sagte er und lächelte. Und in diesem Lächeln erkannte ich plötzlich den Jungen von damals. Den dünnen Vierzehnjährigen mit den kalten Fingern.
„Sie haben mir vor zehn Jahren eine Jacke verkauft“, sagte er. „Und behauptet, der Reißverschluss sei kaputt.“
Ich bekam einen roten Kopf. „Ich verkaufe viele Jacken, mein Junge.“
Er beugte sich etwas vor. „Ich wusste damals schon, dass Sie flunkern. Aber Sie haben mich nicht beschämt. Sie haben mir das Gefühl gegeben, ein normaler Kunde zu sein. Und ich bin diesen Winter nicht krank geworden. Ohne diese Jacke wäre vieles anders gelaufen.“
Er holte einen Umschlag hervor und legte ihn auf den Tresen.
„Da sind fünfhundert Euro drin“, sagte er ruhig. „Für die nächsten ‘Reißverschlussprobleme’.“
Ich schüttelte den Kopf, die Hände zitterten. „Ich… kann das nicht annehmen.“
„Es ist nicht für Sie“, antwortete er. „Es ist für den nächsten Jungen, der frierend hereinkommt. Sorgen Sie dafür, dass auch bei ihm der Reißverschluss klemmt.“
Dann drehte er sich um und ging hinaus in den goldenen Herbst.
Ich bin zweiundsiebzig. Mein Rücken schmerzt, meine Füße auch. Aber ich habe den besten Job der Welt.
Ich habe gelernt: Nicht der Preis entscheidet.
Nicht das Etikett.
Sondern der Mensch, der die Jacke braucht.
Manchmal bedeutet helfen, jemandem Wärme zu geben.
Und manchmal bedeutet es, ihm seine Würde zu lassen.
Und das ist mehr wert als alles andere.
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