Dienstag um Zwei – Wenn Nähe die einzige Währung bleibt

Meine Mutter, Helga, rief mich letzten Dienstag an. Sie ist 82.

„Markus“, sagte sie mit dieser dünnen, aber entschlossenen Stimme, „ich brauche deine Hilfe. Ich möchte mir einen neuen Fernseher kaufen. Einen großen. Einen dieser ‘smarten’.“

Ich musste lachen. Meine Mutter hat noch so einen alten Grundig mit dicker Bildröhre aus dem Jahr 2002. Sie schaut immer noch ihre Nachmittagsserien auf ZDF und denkt, „Streaming“ sei das, was der Regen mit der Dachrinne macht.

Mein erster Gedanke? Genervt. Ganz ehrlich.

Ich hatte eine Abgabe im Büro, mein Sohn hatte am Wochenende ein Fußballturnier in Hannover, und mein Kalender war voll bis oben hin. Und jetzt sollte ich noch als Technikberater durch irgendein Elektronikgeschäft rennen.

„Mama, sag mir einfach, welchen du willst, ich bestell ihn online“, sagte ich, schon am Laptop. „Dann ist er in zwei Tagen da. Ganz einfach.“

„Nein“, sagte sie leise, aber bestimmt. „Ich… ich möchte, dass du mitkommst. In den Laden.“

Ich seufzte. Schwer genug, dass es selbst durchs Telefon hörbar war.

„Gut, Mama. Ich komm um zwei vorbei.“

Ich fuhr die vertraute Strecke raus aus Hannover, in das kleine Reihenhaus aus den Sechzigern, in dem ich aufgewachsen bin. Der Putz ist vergilbt, und der Apfelbaum, den mein Vater gepflanzt hat, überragt längst das Dach.

Mein Vater ist seit drei Jahren tot. Seitdem ist das Haus still. Zu still.

Als ich die Tür öffnete, kam mir der vertraute Geruch entgegen — dieser einzigartige „Mamas-Haus“-Duft. Ein bisschen nach Sonntagsbraten, ein bisschen nach Putzmittel. Nach Leben.

Sie stand schon im Flur, Mantel an, Schuhe geschnürt, die Handtasche griffbereit.

„Na gut, Mama, los geht’s“, sagte ich. „Sonst stehen wir im Berufsverkehr.“

„Ja, gleich“, sagte sie, und ging in die Küche. „Ich hab Kaffee aufgesetzt. Setz dich kurz, ja?“

Ich sah auf die Uhr. 14:10.

Mein inneres Pflichtgefühl schrie: Das dauert alles viel zu lange!

Aber ich setzte mich.

An den alten Küchentisch mit der abgewetzten Wachstischdecke, den mein Vater damals selbst gebaut hat. Ich sah noch die Kerbe, die ich als Kind mit dem Taschenmesser hineingeschnitten hatte.

Sie goss den Filterkaffee in zwei Tassen, denselben, den sie seit Jahrzehnten trinkt.

Wir redeten über nichts Wichtiges. Über den Nachbarn, der sein Dach neu decken ließ. Über die Amseln im Garten. Über meinen Sohn, „der schon so groß geworden ist“.

Ich war unruhig. Mein Handy vibrierte auf dem Tisch. Eine Mail vom Chef. Eine Nachricht von meiner Frau. Ich griff danach.

„Du bist beschäftigt“, sagte sie, und wollte aufstehen. „Wir können später gehen.“

„Nein, Mama. Ist schon gut.“

Sie setzte sich wieder. Dann legte sie ihre Hand auf meine. Ihre Haut war dünn, fast durchsichtig, aber ihr Griff fest.

„Markus“, sagte sie und sah erst auf mein Handy, dann mir in die Augen.

„Ich brauch gar keinen Fernseher.“

Ich erstarrte.

„Ich hab das nur gesagt, weil ich nicht wusste, wie ich dich sonst herlocken soll“, flüsterte sie. „Ich wollte einfach, dass du kommst. Dass wir mal wieder zusammen sitzen. Ich… ich bin hier so allein.“

Dieser Satz hat mich getroffen wie ein Schlag.

Da saß sie – die Frau, die bei Regen und Schnee an jedem Spielfeldrand stand, nur um mir zuzusehen.

Die Frau, die in der Adventszeit Überstunden im Kaufhof gemacht hat, damit ich mir mein erstes Auto leisten konnte.

Die Frau, die mir jedes Mal Frikadellen und Kartoffelsalat eingepackt hat, wenn ich zurück nach Göttingen gefahren bin.

Sie hat mir alles gegeben. Zeit. Kraft. Liebe.

Und jetzt, in diesem kleinen, leisen Haus – einem Haus, das zu groß geworden ist für eine Person – muss sie sich eine Ausrede einfallen lassen, um ihren Sohn zu sehen.

Mir wurde klar, wie oft ich gesagt habe: „Ich meld mich nächste Woche“ oder „Wenn’s im Büro ruhiger wird.“

Wie oft ich meine E-Mails wichtiger genommen habe als das Leben, das mich großgezogen hat.

Wir glauben immer, unsere Eltern „verstehen das schon“.

Wir schicken eine Nachricht, ein Emoji, ein Foto von den Enkelkindern und nennen das „Kontakt halten“.

Aber eine Nachricht ist kein Gespräch.

Ein Paket vom Online-Shop ist kein Besuch.

Und ein Herz-Emoji ersetzt keine Umarmung.

Ihre Währung ist nicht Zeitersparnis.

Ihre Währung ist Nähe.

Als ich schließlich aufblickte, waren meine Augen feucht. Und plötzlich fühlte sich das Haus nicht mehr leer an.

Es war voller Leben.

Weil ich da war.

Wir sind an dem Tag nicht mehr in den Laden gefahren.

Wir haben den schlechten Kaffee ausgetrunken und einfach nur geredet. Über nichts. Und über alles.

Mein Handy blieb in der Jackentasche.

Eines Tages werde ich wieder diese Straße entlangfahren.

Und das Licht im Küchenfenster wird nicht mehr brennen.

Der Stuhl am Fenster, auf dem sie immer sitzt, um nach meinem Auto Ausschau zu halten, wird leer sein.

Und ich weiß jetzt schon: Ich würde jede Deadline, jede Sitzung, jedes Fußballspiel – alles – hergeben,

nur um noch einmal hier zu sitzen.

Noch einmal diesen Kaffee zu trinken.

Noch einmal ihre Hand auf meiner zu spüren.

Wenn du das liest und du hast das Glück, dass deine Eltern noch leben,

warte nicht auf Weihnachten.

Warte nicht auf einen „Anlass“.

Fahr einfach hin.

Setz dich an den alten Tisch. Trink den Kaffee. Hör dieselbe Geschichte zum zehnten Mal.

Leg dein Handy weg.

Denn für sie ist deine Zeit kein Besuch.

Sie ist Liebe.

Sie ist Leben.

Sie ist alles.

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