Drei Jahre Schweigen, ein Poolfoto und der Moment, in dem eine Tochter aufwacht

Die Geschichte geht weiter dort, wo das Poolfoto aufhörte zu blenden: nach dem Klick auf „Dauerauftrag löschen“, nach einer Nacht mit Vanilleduft und leiser Giraffe. Und ja—dies ist die Fortsetzung.

Am Sonntagmorgen war die Wohnung still wie eine Kirche vor dem ersten Lied. Kein Vibrieren, kein piepsendes Icon, das nach Aufmerksamkeit verlangte. Nur die Tasse Kaffee, die in meiner Hand warm wurde, und Tobias, der das Fenster kippte, obwohl die Luft kalt war.

„Und?“, fragte er schließlich, ohne mich anzusehen.

„Der Auftrag bleibt gelöscht“, sagte ich. „Und wir bleiben stehen.“

Er nickte. „Gut. Dann atmen wir.“

Lina kam im Schlafanzug ins Wohnzimmer, die Giraffe im Arm, und drückte sich an meine Seite. „Fahren wir heute auch irgendwohin?“, fragte sie.

„Wir fahren nirgends hin“, sagte ich, „wir bleiben zu Hause und essen Kuchen zum Frühstück.“ Und dann taten wir genau das: Kuchen, Giraffe, Krümel auf dem Teppich, eine ruhige Kinderstimme, die irgendwann „Ich bin doch gut genug“ flüsterte, als wäre es ein Geheimnis, das der Raum behalten sollte.

Gegen Mittag öffnete ich das Handy. Es waren viele Nachrichten da. Von meiner Mutter, meinem Vater, meiner Tante, sogar von einer Cousine, mit der ich seit Jahren nicht gesprochen hatte. Dazwischen Felix: „Was ist da los? Mama macht sich Sorgen. Ruf sie an.“ Kein Emoji, kein weiches Wort. Die sachliche Sprache eines Mannes, der gewohnt ist, dass seine Welt geordnet bleibt, auch wenn fremde Welten brennen.

Ich legte das Handy wieder weg. Tobias stellte mir einen Teller hin. „Iss“, sagte er.

Am Nachmittag klingelte es an der Tür. Ich erstarrte. Tobias sah mich an. „Ich mach auf.“ Er öffnete. Davor stand niemand. Nur ein Paket, groß, mit rosa Geschenkpapier und einem angedeuteten Einhorn auf der Karte. In großer, runder Schrift: „Für Lina. Von Oma und Opa.“

Ich betrachtete das Paket, als wäre es eine Prüfung. Lina tippte mit dem Fuß dagegen. „Darf ich?“

„Ja“, sagte ich, und es klang ruhiger, als ich mich fühlte. Sie riss Papier, entblößte Pappe, zog glitzernde Dinge heraus: ein Plastikschloss mit blinkenden Fenstern, eine Krone, ein Zauberstab, der Licht machte, wenn man ihn schüttelte. Lina quietschte kurz, dann ließ sie den Stab sinken. „Kommt Oma noch?“

„Heute nicht“, sagte ich. „Vielleicht irgendwann. Aber heute nicht.“

Am Abend, als Lina schlief, setzten Tobias und ich uns an den Küchentisch. Die Lampe warf gelbe Kreise auf das Holz. „Wir müssen reden“, sagte ich. „Über mich. Über uns. Über Grenzen.“

„Ja“, sagte er, und er lächelte erschöpft. „Endlich.“

Ich erzählte, was ich seit Jahren nicht aussprach: dass jedes „Wir schaffen das“ von mir, jedes „Nur noch eine Schicht“ wie ein Pflaster war, das auf eine offene Wunde geklebt wurde, ohne die Wunde zu säubern.

Ich erzählte, wie ich die stille Heldin in einem Film sein wollte, den niemand drehte. Und wie sehr es mich schmerzte, zu lernen, dass Liebe nicht bedeutet, am Ende ohne Luft dazustehen.

Tobias hörte zu. Er hob meine Hand und legte sie an seine Wange. „Ich will keine Heldin“, sagte er. „Ich will dich. Unverbeult, unheroisch, lebendig.“

Am Montag verließ ich die Wohnung früher als sonst. In der Garderobe meiner Station war es noch dunkel. Ich hängte meine Jacke auf, band mir die Haare zusammen, sah mein eigenes Gesicht im Spiegel: müde, ja. Aber nicht mehr schuldig.

Zwei Kolleginnen kamen rein, flüsterten über Dienstpläne und einen Patienten, der nachts aus dem Bett gefallen war. Ich nickte, tat, was getan werden musste. Als die Pause kam, schrieb ich eine Nachricht an meine Eltern. Kurz. Höflich. Klar: „Wir pausieren die Unterstützung. Bitte respektiert das. Für Lina sind wir offen. Für alles andere brauchen wir Zeit.“

Die Antwort kam am Nachmittag. Von meiner Mutter: „Du brichst uns das Herz. Wir haben Fehler gemacht, aber du darfst uns nicht so bestrafen.“ Ich starrte auf das Wort bestrafen. Es brannte wie Schnaps. Ich legte das Handy weg und verteilte Medikamente.

Am Abend klingelte es wieder. Ich öffnete. Vor der Tür stand nicht meine Mutter. Es war Felix. Teurer Mantel, glatte Haare, ein Lächeln, das nichts erreichte. Er hielt die Hände frei, als wollte er zeigen, dass er unbewaffnet war.

„Darf ich reinkommen?“, fragte er, und ich hörte die vertraute Münchner Kühle in seiner Stimme.

„Darfst du“, sagte ich. „Aber es wird nicht gemütlich.“

Er trat ein, musterte die Wohnung, als wäre sie eine Statistik. „Ich war in der Stadt“, sagte er. „Business. Ich dachte, ich schaue vorbei.“

Tobias stand aus der Küche auf, wischte sich die Hände an einem Geschirrtuch ab, blieb mit Abstand stehen. Felix tat, als sähe er ihn nicht. „Hör zu, Steph“, begann er, „die Reise—das war.“

„Geplant“, sagte ich. „Mit Vorfreude. Mit Poolfoto.“

Er presste die Lippen zusammen. „Mama ist alt geworden. Du kennst ihre Nerven. Sie wollte es dir sagen, sie—“

„—hat es nicht getan“, sagte ich. „Weil Stolz schöner ist, wenn er an sonnigen Terrassen hängt.“

Felix seufzte. „Immer diese Bilder von dir. Drama. Du weißt, dass ich helfe. Mehr als du denkst.“

„Ich weiß, dass man dir dafür klatscht“, sagte ich. „Und ich weiß, dass Lina gestern dachte, sie sei nicht gut genug.“

Das traf. Er blinzelte. „Das tut mir leid“, sagte er. „Für Lina. Wirklich.“ Es klang ehrlich. Vielleicht zum ersten Mal. „Ich wusste vom Geburtstag“, gab er dann zu. „Ich habe Mama gesagt, sie soll absagen. Sie sagte, ihr schafft das.“

In mir worf sich etwas um. Ein alter Automatismus wollte aufstehen, wollte „Schon gut“ sagen. Ich setzte mich auf die Hände. „Und jetzt?“, fragte ich. „Weshalb bist du hier?“

Er sah sich um, als suchte er ein passendes Möbelstück für sein Anliegen. „Ich will das klären“, sagte er. „Ich habe Geld. Ich kann aushelfen.“

Tobias lachte leise. „Aushelfen womit? Dem Loch, das du mit Prosecco vergrößert hast?“

Felix wandte sich ihm zu. „Ich rede mit meiner Schwester“, sagte er.

„Und ich rede mit meiner Frau“, antwortete Tobias. „Selbst wenn du lauter redest.“

Es entstand eine Stille, die nicht drohte, sondern entschied. Felix hob die Hände. „Okay. Vorschlag: Ich übernehme für ein Jahr die Unterstützung unserer Eltern. Fix. Ohne Bedingungen. Ihr zahlt nichts. Aber ruft Mama an. Sie dreht durch.“

„Sie soll durchdrehen“, sagte ich. „Vielleicht dreht sich dabei was ein, was schon lange schief steht.“

Er atmete aus. „Du warst immer die Dickköpfige“, sagte er, und es klang nicht liebevoll. „Ich mach’s trotzdem. Nicht für euch. Für Lina.“

„Dann tu’s“, sagte ich. „Und sag ihnen, dass Lina nächstes Wochenende im Park an der großen Rutsche ist. Wer sie sehen will, kann kommen. Ohne Pool.“

Felix nickte. Er ging zur Tür, blieb stehen, drehte sich um. „Steph“, sagte er, „du bist nicht die Einzige, die sich schuldig fühlt.“

„Ich weiß“, sagte ich. „Aber ich bin die Einzige, die bei mir wohnen muss.“

Als er weg war, saßen Tobias und ich wieder am Tisch. „Glaubst du ihm?“, fragte Tobias.

„Ich glaube, dass er das kann“, sagte ich. „Und dass er es tun wird. Nicht, weil er’s versteht. Sondern weil er’s gewohnt ist, Lösungen zu kaufen.“

„Und wenn er’s nicht tut?“, fragte er.

„Dann passiert Folgendes: Nichts. Wir bleiben stehen.“

Am Freitag vibrierte mein Handy nicht. Es war ein leerer Platz im Kalender, ein weißes Feld, das nicht mehr mit Pflicht beschrieben war. Ich nahm mir in der Pause Zeit, einen Kaffee im Krankenhauskiosk zu trinken, ohne gedanklich Kontozeilen durchzugehen.

Als ich in die Garderobe zurückkam, lag ein Umschlag in meinem Spind. Kein Absender. Ich riss ihn auf. Darin: ein Foto. Lina im Kindergarten, lachend, die Haare ein bisschen wirr, die Giraffe an der Hand. Auf der Rückseite die Schrift meiner Mutter: „Für Lina. Wir kommen Sonntag in den Park. Ohne Ausreden. Oma.“

Ich steckte das Foto in die Brusttasche meiner Kittelschürze. Es drückte leicht gegen mein Herz, wie eine Erinnerung daran, dass manche Dinge doch rechtzeitig werden, wenn man sie loslässt.

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