Ich war schon über den Parkplatz gerollt, als ich das Schreien hörte.
Drei Uhr morgens, irgendwo zwischen zwei Ausfahrten auf einer dunklen Bundesstraße in Mitteldeutschland. Regen wie aus Kübeln, Windböen, die meinen alten Kombi hin und her schoben. Keine andere Seele unterwegs. Nur ich, der Sturm – und dieses dünne, klagende Geräusch hinter der verlassenen Tankstelle.
Es klang erst wie eine Katze. Vielleicht verletzt, vielleicht eingesperrt in irgendeinem Schuppen.
Normalerweise wäre ich einfach weitergefahren. Ich bin neunundsechzig, kein junger Feuerwehrmann mehr, kein Retter im Dienst. Mein Rücken knirscht, mein Knie macht bei Wetterwechsel Theater, und in dieser Nacht war ich eigentlich nur auf dem Heimweg von einer Beerdigung.
Aber manche Töne gehen dir durch Mark und Bein.
Und dieses Schreien kannte ich – nicht vom Klang, aber vom Gefühl. Verzweiflung.
Ich parkte den Kombi unter dem kaputten Vordach der alten Tankstelle. Die Neonreklame war längst tot, nur noch ein verrostetes Schild mit einem Fantasienamen hing schief im Wind. Hinter dem Gebäude standen zwei große Müllcontainer, der Deckel eines davon halb offen, schwarzer Müllsack halb herausgerissen.
Das Schreien kam von dort.
Ich stapfte durch den Regen, zog mir die Kapuze enger ins Gesicht. „Na los, Martin“, murmelte ich. „Ein kurzer Blick, dann nach Hause.“
Als ich den Deckel ganz anhob, traf mich der Geruch von altem Essen, nassem Papier, Moder. Ich leuchtete mit der kleinen Taschenlampe vom Schlüsselbund hinein. Zerrissene Kartons. Glas. Zerbrochene Plastikboxen. Und obenauf ein schwarzer Müllsack, der sich bewegte.
Nicht vom Wind. Von innen.
Mein Herz machte einen Satz. In vierzig Jahren bei der Feuerwehr hatte ich viel gesehen. Eingeklemmte Fahrer, verbrannte Wohnungen, Kinder, die wir zu spät aus dem Rauch gezogen hatten. Aber dieser Anblick – dieser sich bewegende Müllsack – machte mich plötzlich wieder zu einem Mann, der kurz davor war, die Luft anzuhalten und wegzulaufen.
Ich riss den Sack auf.
Und vergaß zu atmen.
Da lag ein Baby. Winzig. Der Körper noch schmierig von Blut und Käseschmiere. Die Nabelschnur mit einem alten, schmutzigen Schnürsenkel abgebunden. Lippen bläulich. Die Haut viel zu kalt unter meinen Fingern.
Jemand hatte dieses Kind geboren – und dann in den Müll geworfen.
„Nein“, flüsterte ich, und meine Stimme klang fremd. „Nein, nein, nein …“
Ich schälte das Baby vorsichtig aus dem Plastiksack. Es war vielleicht ein paar Stunden alt, eher weniger. Fünf Pfund, wenn überhaupt. Eine Hand so groß wie mein Daumen. Der Kopf fiel schwer in meine Handfläche, als hätte es keine Kraft mehr.
Das Schreien war verstummt.
Das war das Schlimmste. Babys, die schreien, leben. Babys, die still sind, machen alten Feuerwehrmännern Angst.
Ich legte mein Ohr dicht an den kleinen Brustkorb. Zwischen dem Rauschen des Regens und meinem eigenen Blutrauschen hörte ich etwas. Ganz schwach. Ein Herzschlag. Unregelmäßig, aber da.
„Komm schon, Kleines“, murmelte ich. „Nicht jetzt aufgeben.“
Der nächste Notarztstandort war in der Kreisstadt, gut zwanzig Kilometer entfernt. Ein kleines Krankenhaus mit Notaufnahme, mehr nicht. Kein Blaulicht, keine Kollegen, keine ausgebildete Mannschaft – nur ich und ein alter Kombi.
Aber der Blick auf dieses Bündel in meinen Händen ließ jeden Zweifel verschwinden.
„Nicht in meinem Dienst, Kleine“, sagte ich. „Nicht heute.“
Ich riss meine dicke Winterjacke auf, obwohl es nur knapp über zehn Grad hatte und der Regen härter wurde. Zog den Pullover aus, steckte das Baby direkt an meine Brust, Haut an Haut, so gut ich konnte. Meine Hände waren grob, voller Narben, doch in diesem Moment versuchte ich, sie so weich zu machen wie möglich.
Dann zog ich Pullover und Jacke wieder darüber, ließ nur genug Platz, damit sie atmen konnte. Ihr Kopf lag genau unter meinem Kinn. Ich spürte die Kälte ihres kleinen Schädels an meinem Brustbein.
„Martin Brandt“, murmelte ich, während ich zum Auto rannte, „du wolltest doch endlich ruhiger treten. Tja. Pech gehabt.“
Der Regen prasselte wie kleine Steine auf die Windschutzscheibe, als ich den Motor startete. Die Scheibenwischer kamen kaum nach. Ich fuhr los, viel zu schnell für diese Straße, aber langsam genug, um nicht in den Graben zu springen.
„Bleib bei mir“, sagte ich, mehr zu mir selbst als zu ihr. „Noch ein paar Kilometer. Nicht einschlafen, hörst du?“
Ich fuhr und hörte. Hinein in die Nacht, hinein in den Sturm. Jede rote Ampel war ein Feind, jede Kurve ein Hindernis zwischen diesem Kind und einem warmen, hellen Raum mit Medizin und Menschen in weißen Kitteln.
Ich sprach die ganze Zeit.
Mit ihr. Mit mir. Mit denen, die ich verloren hatte.
„Weißt du, Kleine“, flüsterte ich, „ich hab mal eine eigene Tochter gehabt. Sie hieß Anna. Sie ist nie so klein gewesen wie du. Kam zu spät, nicht zu früh. Hat geschrien wie eine Sirene, wenn sie Hunger hatte.“
Mein Hals schnürte sich zu. Ich sah das Licht eines Lastwagens im Rückspiegel, fuhr noch ein Stück zur Seite, ohne vom Gas zu gehen.
„Anna hat ein Auto erwischt, als sie vier war“, sagte ich leise. „Meine Frau hat das nicht verkraftet. Ich hab weiter Brände gelöscht, Unfallstellen abgesperrt, anderen geholfen – aber zu Hause wurde es immer stiller.“
Ich spürte, wie mir Tränen in den Bart liefen. Regen oder Tränen, in dieser Nacht war das eins.
„Also komm mir nicht auf die Idee, jetzt einfach aufzuhören zu kämpfen“, murmelte ich. „Ich habe es schon einmal nicht verhindern können. Dieses Mal lass ich nicht los.“
Unter meinem Kinn spürte ich etwas. Ein zuckender, kaum merklicher Druck. Als ob ein winziger Muskel einen letzten Versuch machte.
„Ja, genau“, sagte ich. „Zeig ihnen, was du kannst.“
Die Bundesstraße zog sich endlos. Ich kannte jede Kurve, jede Bodenwelle – ich war hier jahrelang mit dem Löschfahrzeug gefahren. Jetzt war ich ohne Blaulicht unterwegs, aber in meinem Kopf heulte jede Sirene.
Als die ersten Lichter der Stadt durch den Regen schimmerten, spürte ich zum ersten Mal so etwas wie Hoffnung.
Ich hatte keinen Plan, wie spät es genau war, nur dass die Uhr über dem Empfang der Notaufnahme auf kurz nach drei stand, als ich in die Einfahrt schoss und schräg auf einem Parkplatz zum Stehen kam.
Ich sprang aus dem Auto, lief hinein, die Jacke halb aufgerissen, die Hände wie ein Nest um das Kind gelegt.
„Hilfe!“, rief ich. „Neugeborenes! Im Müll gefunden! Es ist noch am Leben!“
Plötzlich war alles hell und laut. Stimmen, Schritte, Hände. Eine Schwester drückte mich auf einen Stuhl, die andere nahm mir das Bündel ab. Ein Arzt tauchte auf, noch mit zerknitterter OP-Haube, und verschwand mit dem Kind in einem Raum, in den ich nicht folgen durfte.
„Sind Sie der Vater?“, fragte jemand.
„Nein“, brachte ich hervor. „Ich habe sie hinter einer alten Tankstelle gefunden. In einem Müllcontainer.“
„Wann?“
„Vor ungefähr … zwanzig, fünfundzwanzig Minuten. Ich bin so schnell gefahren, wie ich konnte.“
Sie stellten weitere Fragen. Ein junger Polizist kam, noch halb im Regenmantel. „Sie haben ein Baby im Müll gefunden? Ganz sicher?“
„Glauben Sie, ich sehe Gespenster?“, schnappte ich, und meine Stimme klang rauer, als ich wollte. „Ja, ich bin mir sicher.“
„Und Sie sind…?“
„Martin Brandt. Ehemaliger Berufsfeuerwehrmann.“ Ich zeigte auf die alten Reflexstreifen am Ärmel meiner Jacke. „Ich weiß, wie eine Reanimation aussieht. Aber ich hoffe, dass wir dazu nicht kommen.“
Danach wurde die Zeit zäh. Ich bekam einen Kaffee, der nach altem Filter und grauen Nächten schmeckte. Meine Hände hörten nicht auf zu zittern. Der Polizist stellte Fragen, schrieb in sein kleines Gerät. Ich beantwortete alles, so gut ich konnte.
Niemand sagte etwas über das Baby.
Erst gegen fünf kam eine Ärztin zu mir. Mittleres Alter, Augenringe, die aussahen wie dunkle Schatten unter einer viel zu schweren Verantwortung.
„Herr Brandt?“
Ich stand zu schnell auf, mir wurde kurz schwindlig. „Ja?“
„Das Baby, das Sie gebracht haben …“
Sie machte eine kurze Pause, vielleicht aus Gewohnheit, um schlechte Nachrichten vorzubereiten.
„Es lebt“, sagte sie dann. „Unterkühlt, dehydriert, wahrscheinlich zu früh geboren. Aber es lebt. Ohne Sie wäre es heute Morgen nicht mehr hier.“
Ich merkte erst, dass ich Luft angehalten hatte, als sie wieder in meine Lungen strömte. Plötzlich brannten mir die Augen.
„Darf ich sie sehen?“, fragte ich.
„Sind Sie verwandt?“
„Nein.“ Ich schluckte. „Aber ich bin der Einzige, der sich darum gekümmert hat, ob sie überlebt.“
Die Ärztin sah mich an. Eine Sekunde, zwei. Dann nickte sie.
„Kommen Sie.“
Die Neonlampe im Flur summte leise. Im Raum dahinter blinkten Monitore, leuchteten kleine Lampen. Es roch nach Desinfektionsmittel und warmer Luft. In einem Inkubator lag sie.
So klein. So verletzlich. Unter Schläuchen und Kabeln, aber rosiger als in meinen Händen am Müllcontainer. Eine winzige Hand zuckte, als wolle sie nach irgendwas greifen.
„Sie ist eine Kämpferin“, sagte die Schwester neben mir leise. „Für ihren Zustand erstaunlich stabil.“
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