Teil 5 – Das Versprechen im Feuerbuch
Am nächsten Morgen saß Karl am Wohnzimmertisch und blätterte durch das alte schwarze Notizbuch, das er Feuerbuch nannte.
Darin hatte er jeden bedeutenden Einsatz aus seiner Feuerwehrzeit aufgeschrieben – mit Datum, Ort, Skizzen, manchmal sogar eingeklebten Zeitungsausschnitten.
Es roch nach Asche und Leder.
Das Leder war brüchig, die Ecken eingerissen.
Doch was darin stand, war für Karl wie das Echo seiner Vergangenheit.
Bruno lag auf seiner Matratze, die Decke leicht über die Beine geschoben.
Der Blick war wach. Ruhiger als in den Tagen zuvor.
Karl glaubte, sogar einen kleinen Funken in diesen alten dunklen Augen zu sehen.
Er fand schließlich den Eintrag, den er gesucht hatte:
21. März 2010 – Hausbrand Köpenicker Straße 18
„Zweiter Stock, dichter Rauch. Ich war zuletzt im Flur, als die Decke einstürzte. Funkverbindung weg. Niemand hörte mich.
Bruno schlug Alarm – lautes Bellen, unaufhörlich. Der Hund lief in den Hausflur, trotz Hitze, trotz Gefahr.
Ich wurde durch das Bellen gefunden. Ohne ihn – wäre ich tot.“
Karl strich mit den Fingern über die Tinte.
Sie war etwas verlaufen – von einer Träne? Oder vom Regen, als er den Bericht später schrieb?
Er sah zu Bruno.
„Du hast mir damals das Leben gerettet. Jetzt ist es Zeit, dass ich deins rette – oder dir zumindest helfe, es gut zu beenden.“
**
Gegen Mittag kam Leon wieder.
Diesmal brachte er ein kleines Paket mit – und eine Idee.
„Ich hab mit einer Tierphysiotherapeutin gesprochen. Sie meinte, manchmal hilft eine leichte Wassertherapie. Es gibt Kliniken, die Hunde im Wasser aufhängen – wie in einem Pool. Sanfte Bewegungen, weniger Belastung.“
Karl runzelte die Stirn.
„Wie soll ich ihn denn dorthin bekommen?“
Leon grinste.
„Ich hab schon nachgefragt. Wenn er stabil bleibt, kann die Therapeutin sogar vorbeikommen. Einmal die Woche. Wird von der Stiftung bezahlt.“
Karl schwieg.
Er war alt genug, um zu wissen, dass Hoffnung oft ein brüchiges Seil war.
Aber heute hielt er sich daran fest.
Weil Bruno noch atmete.
Weil Bruno noch lebte.
**
Im Paket war ein neues Hundegeschirr mit seitlichen Griffen.
„Damit kannst du ihn vorsichtig stützen, wenn du ihn umlagerst. Oder… falls er doch wieder aufstehen will.“
Karl betrachtete das schwarze Geschirr lange.
Dann nahm er es, beugte sich über Bruno und schnallte es ihm vorsichtig um.
Der Hund ließ es geschehen.
Nur ein leises Stöhnen, als Karl die Vorderbeine anhob.
„Weißt du“, sagte Leon schließlich, „du könntest all das auch lassen. Viele Leute hätten ihn längst einschläfern lassen.“
Karl antwortete ruhig:
„Aber ich bin nicht viele Leute. Ich bin Karl Brenner. Und er ist Bruno.
Er hat mir das Leben gerettet. Ich will wenigstens versuchen, seins zu verlängern.“
**
Nachmittags ging Karl durch die Wohnung, suchte nach allem, was Bruno brauchen könnte.
Er holte aus einer alten Kiste ein zerknabbertes Plüschschaf, das früher im Schlafzimmer lag.
Er stellte Brunos Wassernapf auf eine kleine Erhöhung, damit er nicht mehr so tief den Kopf senken musste.
Und er platzierte einen kleinen CD-Player auf dem Nachttisch, legte eine CD ein: Bettinas Lieblingslieder.
Leise Jazzklänge erfüllten den Raum.
Bruno hob den Kopf.
Der Klang schien ihn zu beruhigen.
Karl setzte sich zu ihm.
Er streichelte den Kopf des Hundes, fuhr mit dem Daumen über die Fellwirbel.
„Weißt du, Bettina hat dich immer unseren Dritten im Bunde genannt.
Sie sagte, du bist das Band zwischen uns. Und ich glaube, sie hatte recht.“
**
Gegen Abend wurde Karl plötzlich sehr müde.
Die Knie schmerzten, der Rücken brannte.
Er schlief ein, während Bruno atmete, träumte, vielleicht sogar kämpfte.
Im Traum war wieder alles hell:
Der Garten, Bettina auf der Bank.
Bruno sprang durch den Rasen, trug das alte Plüschschaf im Maul.
Dann – ein anderer Ort.
Das brennende Haus.
Karl eingeklemmt, hustend.
Bruno bellt. Bellt. Bellt.
Und plötzlich: Hände, die ihn rausziehen.
Licht. Luft.
Und dann Bettinas Stimme:
„Karl… du musst ihm ein Versprechen geben.“
„Was denn?“
„Dass er nicht alleine gehen muss.“
**
Karl wachte mit Tränen auf.
Der Raum war dunkel.
Die Jazzmusik war verstummt.
Er hörte ein leises Winseln.
Bruno lag auf der Seite, atmete flach.
Er hatte sich wohl im Schlaf bewegt.
Karl stand auf, griff nach der Wärmflasche, prüfte die Temperatur.
Er legte sie sanft an Brunos Rücken.
Dann beugte er sich hinunter.
„Ich verspreche dir, Bruno…
wenn deine Zeit kommt, bin ich da. Ich halte dich.
Und wenn du es schaffst, noch einmal aufzustehen –
dann gehen wir noch einmal raus.
In den Park. Zur alten Bank.
Wie früher.“
Brunos Augen öffneten sich langsam.
Er sah ihn an.
Und dann – ganz schwach, ganz langsam – leckte er Karls Hand.
**
In diesem Moment war alles still.
Der Fernseher aus, das Handy lautlos, kein Auto in der Straße.
Nur dieses leise Geräusch: Ein Herz, das nicht aufgibt.
Und ein alter Mann, der wusste:
Manche Versprechen hält man nicht mit Worten, sondern mit Taten.
**
Am nächsten Morgen stand Karl früher auf als sonst.
Er wusch sich das Gesicht, rasierte sich sogar – etwas zittrig, aber gründlich.
Dann zog er sein altes Feuerwehrhemd an, das mit den Schulterklappen.
Nicht weil Besuch kam.
Sondern weil es ein besonderer Tag war.
**
Leon kam gegen zehn.
„Du siehst… anders aus“, sagte er.
Karl grinste schwach.
„Ein bisschen Würde. Für meinen Kameraden.“
Sie trugen Bruno gemeinsam in den Rollstuhl.
Die Sonne war klarer als an den Tagen zuvor.
Die Blätter auf den Höfen färbten sich rot und gelb.
Ein Kind auf einem Roller blieb kurz stehen, winkte Bruno.
Karl winkte zurück.
Dann sagte er zu Leon:
„Morgen… fahren wir.
In den Park.
Zur alten Bank.“