Teil 6 – Der verlorene Schlüssel
Der nächste Tag begann mit Licht.
Nicht grell, nicht hart – sondern dieses milde, goldene Licht, das der Herbst manchmal aus dem Nichts herausholt, wie ein Geschenk an die, die noch hinschauen können.
Karl stand früh auf.
Er hatte kaum geschlafen, aber das störte ihn nicht.
Heute sollte es geschehen.
Der letzte Spaziergang, das letzte Versprechen einlösen.
Bruno lag wach, als Karl mit einer dampfenden Tasse Brühe hereinkam.
Die Augen des Hundes waren glasig, aber wach.
„Guten Morgen, mein Junge“, sagte Karl.
„Heute fahren wir zur Bank.
Du weißt schon – unsere Bank.“
Bruno zuckte leicht mit den Lefzen.
Karl bildete sich ein, ein Lächeln zu sehen.
**
Gegen zehn Uhr traf Leon ein, wieder mit dem kleinen Transportwagen.
Er hatte eine faltbare Rampe im Gepäck und eine Thermoskanne Kaffee.
„Ich hab auch ein Handtuch mitgenommen. Falls Bruno sich draußen verschnupft“, sagte er mit einem Grinsen.
Karl hatte sich wieder fein gemacht: saubere Hose, die alte Feuerwehrjacke, das Hemd darunter.
Er wirkte zerbrechlich.
Aber in seinen Augen brannte etwas, das man nicht oft sieht:
Entschlossenheit mit einem Funken Hoffnung.
**
Sie rollten Bruno langsam in Richtung Fahrstuhl.
Der Wind war kühl, aber trocken.
Bruno lag auf einer dicken Decke, mit einem Tuch über den Hinterbeinen, das Karl mit zwei Sicherheitsnadeln festgesteckt hatte.
Der Hund hob den Kopf, als die Haustür aufging.
Er sog die Luft ein.
Sein Blick schien sich zu weiten.
Unten am Tor wartete schon Markus, der pensionierte Tierpfleger.
„Ich wollte es nicht verpassen“, sagte er.
„Solche Abschiedsrunden sind selten.“
Sie schoben Bruno durch den Kiez, langsam, aber stetig.
Am Kiosk winkte Frau Dürr, die sonst kaum sprach.
Ein Mann im Rollator hielt kurz inne und fragte:
„Wie alt ist er?“
„Fast sechzehn“, antwortete Karl.
„Starkes Tier“, sagte der Mann. Und ging weiter.
**
Im Treptower Park war es still.
Nur das Rascheln der Blätter und das Quietschen der alten Räder auf dem Kies.
Sie erreichten die Bank am Teich.
Eine Bank, die Karl und Bettina vor Jahrzehnten ausgewählt hatten, weil dort die Sonne ab dem Nachmittag auf das Holz schien.
Leon half, Bruno vorsichtig aus dem Rollstuhl zu heben.
Sie betteten ihn auf eine Picknickdecke, direkt vor der Bank, mit Blick auf das Wasser.
„Ich geh mal einen Moment“, sagte Leon.
„Ich hol uns was Warmes.“
**
Karl setzte sich auf die Bank.
Er spürte das raue Holz unter sich, roch Moos und alten Regen.
Bruno lag still, aber nicht teilnahmslos.
Er hob den Kopf, schnupperte.
Enten quakten in der Ferne.
Ein Kind lachte, ein Fahrrad klingelte.
„Weißt du noch, Bruno…?“, begann Karl.
„Hier hast du zum ersten Mal gelernt, den Ball aus dem Wasser zu holen.
Und da vorn, an der Birke, hast du damals einem Dackel die Leine geklaut.“
Bruno atmete ruhig.
Ein leiser Laut kam aus seiner Kehle – ein Rest von Leben, der sich bemerkbar machte.
Karl lehnte sich zurück.
Er schloss die Augen.
Und dann passierte es.
**
Ein Schatten fiel auf ihn.
Er öffnete die Augen – und sah einen Mann.
Mitte sechzig vielleicht.
Graues Haar, dicke Brille, alte Uniformjacke.
„Karl Brenner?“, fragte er.
Karl richtete sich auf.
„Ja? Wer…?“
„Ich bin Heinz Müller. Wir waren zusammen in der Ausbildung. 1972. In Lichterfelde. Feuerwehrschule.“
Karl runzelte die Stirn.
Er sah genauer hin.
Und dann erinnerte er sich:
Der Junge mit dem Stottern.
Der sich nie traute, das Funkgerät zu bedienen.
Der eines Nachts in der Turnhalle zu Karl sagte:
„Ich wünschte, ich wär wie du.“
Karl stand auf – so gut er konnte – und streckte die Hand aus.
Heinz drückte sie.
Beide zitterten leicht.
„Ich hab über Umwege von dir gehört. Über diesen Hund.
Und was du für ihn tust.“
**
Karl setzte sich wieder.
Er erzählte kurz.
Von Bettina.
Vom Hausbrand.
Von Brunos Krankheit.
Heinz hörte still zu.
Dann griff er in seine Jackentasche.
Zog einen kleinen, verbeulten Schlüssel hervor.
„Ich weiß, das klingt verrückt… aber ich hab den Schlüssel zu unserem alten Schulspind behalten. Die Nummer 103. Deiner.
Da drin liegt noch was.
Ein Brief von dir. Du hast ihn nie abgeholt. Ich wollte ihn dir zurückgeben.“
Karl starrte auf das Metallstück in seiner Hand.
Er erinnerte sich kaum.
Doch irgendetwas in seinem Bauch sagte ihm: Das war wichtig.
**
Leon kam zurück mit drei Bechern heißem Tee.
Als er Heinz sah, stellte er sie ab.
„Besuch?“
Karl nickte langsam.
Er erzählte, wer Heinz war.
Dann nahm er den Schlüssel.
Drehte ihn zwischen den Fingern.
„Ich hab nie gedacht, dass ich noch jemanden aus der alten Zeit sehe.“
Heinz legte eine Hand auf seine Schulter.
„Manche Türen brauchen lange, um wieder aufzugehen.“
**
Bruno bewegte sich.
Langsam, aber sichtbar.
Er hob den Kopf, sah Karl an.
Und dann – zum ersten Mal seit Wochen – versuchte er sich aufzurichten.
Leon beugte sich sofort hin.
„Vorsichtig! Ganz ruhig!“
Aber Bruno blieb aufrecht.
Nicht ganz, nicht fest – aber auf den Vorderpfoten.
Er stützte sich, hielt das Gleichgewicht.
Karl hatte Tränen in den Augen.
„Er steht“, flüsterte er.
„Er steht wirklich.“
**
Sie blieben noch eine Stunde.
Dann hoben sie Bruno wieder in den Rollstuhl.
Karl verabschiedete sich von Heinz mit einer festen Umarmung.
„Der Brief“, sagte Heinz, „der wartet auf dich.“
Karl nickte.
„Ich werd ihn holen.“
Als sie zurückrollten, war die Sonne schon tief.
Aber sie wärmte noch.
Ein milder, goldener Tag – einer, den man nicht vergisst.